In seinem Beschluss vom 25.April 2006 in dem Verfahren 1 StR 579/05 hat sich der Bundesgerichtshof sich mit der Frage auseinandergesetzt, wann im Strafverfahren die Einholung eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens notwendig ist.
Er stellte fest, dass die Würdigung von Aussagen nicht nur erwachsener, sondern auch kindlicher oder jugendlicher Zeugen zum Wesen richterlicher Rechtsfindung gehöre und daher grundsätzlich dem Tatrichter anvertraut sei.
Die Einholung eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens sei allerdings dann geboten, wenn der Sachverhalt oder die Person des Zeugen solche Besonderheiten aufweist, dass Zweifel daran aufkommen können, ob die Sachkunde des Gerichts auch zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit unter den gegebenen besonderen Umständen ausreicht.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in 27 Fällen, wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen, wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Misshandlung von Schutzbefohlenen in 43 Fällen und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 15 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt. Von weiteren Tatvorwürfen hat es ihn freigesprochen. Gegen das Urteil wendet der Angeklagte sich mit Verfahrensrügen und der näher ausgeführten Sachrüge. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
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I. Die Revision beanstandet die Behandlung von zwei Hilfsbeweisanträ-gen, die auf die Einholung aussagepsychologischer Sachverständigengutachten zur Glaubhaftigkeit der Angaben der Geschädigten E. und M. G. gerichtet waren und von der Strafkammer unter Hinweis auf eigene Sachkunde abgelehnt worden sind. Die Rüge nach § 244 Abs. 4 Satz 1 StPO greift durch.
1. Gegenstand der Verurteilung sind Misshandlungen und sexuelle Übergriffe des Angeklagten zum Nachteil seiner Ehefrau E. G. , seines am 1. Mai 1989 geborenen Sohnes M. und seiner am 7. November 1993 geborenen Tochter S. . Das Landgericht hat den nicht vorbestraften Angeklagten für schuldig befunden, in den Jahren 1998 bis 2002 im Abstand von jeweils zwei Monaten den Geschlechtsverkehr mit seiner Ehefrau erzwun-gen zu haben, indem er sie würgte und bedrohte (“Wenn ich Dich jetzt umbrin-ge, kannst Du gar nichts tun.”). Nach den Urteilsfeststellungen missbrauchte der Angeklagte zwischen 1994 und 2000 seinen behinderten Sohn M. fünfzehn Mal, indem er das fünf bis elf Jahre alte Kind auf dessen Bett warf, es mit der einen Hand würgte und mit der anderen vor ihm masturbierende Bewegungen an sich vollzog. Mit der vier bis sechs Jahre alten S. führte der An-geklagte nach den Feststellungen in drei Fällen den Geschlechtsverkehr durch. Daneben kam es – so das Landgericht – wiederholt zu Gewalttätigkeiten, indem der Angeklagte S. mit einem eisernen Pfannenwender und M. mit einem Gürtel schlug, M. zudem in zwei weiteren Fällen mit einem Mes-ser in den Arm schnitt.
Der Angeklagte hat die Taten bestritten. Das Landgericht hat sich in sei-ner Beweiswürdigung im Wesentlichen auf die jeweiligen Aussagen der Ge-schädigten zu den an ihnen begangenen Taten gestützt. Ergänzend hat es An-gaben der Zeugin E. G. zu Begleitumständen des Missbrauchs von S. und zu den Misshandlungen von M. berücksichtigt, weiterhin Angaben der Zeugin K. G. , Schwester von S. und M. , die einen Fall des Missbrauchs von S. beobachtet haben will. Die Kammer hat die Zeugin S. G. einer aussagepsychologischen Begutachtung unter-zogen; sie ist der Bewertung der Sachverständigen, wonach die Schilderungen der Zeugin keinen Erlebnisbezug aufweisen, Aussageentstehung und –inhalt vielmehr deutliche Hinweise auf suggestive Prozesse und die Entstehung von Scheinerinnerungen ergeben, indes nicht gefolgt. Auch die Zeugin K. G. war im Ermittlungsverfahren im Hinblick auf Missbrauchsvorwürfe, die sie gegenüber dem Angeklagten erhoben hatte, Gegenstand einer aussage-psychologischen Begutachtung. Die Sachverständige ist auch hinsichtlich die-ser Zeugin zu dem Ergebnis gelangt, dass die Annahme von Scheinerinnerun-gen und einer darauf beruhenden Falschaussage nicht zurückzuweisen sei. Die Kammer hat dem in die Verhandlung eingeführten Gutachten keine durchgrei-fende Bedeutung beigemessen, da es sich hauptsächlich auf Berichte der Zeu-gin über an ihr selbst begangene Taten beziehe, nicht aber auf solche zu Lasten ihrer Schwester S. .
Die Verteidigung hat Hilfsbeweisanträge auf Einholung aussagepsycho-logischer Sachverständigengutachten zum Beweis dafür gestellt, dass die Aus-sagen der Zeugen E. und M. G. nicht erlebnisfundiert sei-en. Die Kammer hat die Anträge abgelehnt, weil sie selbst über die erforderliche Sachkunde verfüge.
2. Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Ablehnung der Be-weisanträge erweist sich in Anbetracht der ungewöhnlichen Besonderheiten des Falles als rechtsfehlerhaft.
Die Würdigung von Aussagen nicht nur erwachsener, sondern auch kind-licher oder jugendlicher Zeugen gehört zum Wesen richterlicher Rechtsfindung und ist daher grundsätzlich dem Tatrichter anvertraut (BGHSt 8, 130; BGH NStZ 2001, 105). Die Einholung eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens ist allerdings dann geboten, wenn der Sachverhalt oder die Per-son des Zeugen solche Besonderheiten aufweist, dass Zweifel daran aufkom-men können, ob die Sachkunde des Gerichts auch zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit unter den gegebenen besonderen Umständen ausreicht (st. Rspr.; BGHR StPO § 244 Abs. 4 Satz 1 Glaubwürdigkeitsgutachten 2; BGH StV 1994, 173). Um einen solchen Fall handelt es sich hier.
a) Auffälligkeiten im Hinblick auf die Aussage der Zeugin E. G. liegen in ihrer Person und in den Umständen der Aussageentstehung begründet. Den Urteilsfeststellungen ist zu entnehmen, dass die Zeugin nach ihren eigenen Angaben von ihrem vierten bis zum achtzehnten Lebensjahr in ihrer eigenen Familie sexuellen Übergriffen ausgesetzt gewesen ist. Solche Ü-bergriffe habe sie auch von einem Freund hinnehmen müssen, mit dem sie eine Beziehung unterhielt, bevor sie den Angeklagten kennen gelernt habe.
Zur Entstehung der den Angeklagten belastenden Aussagen verhält sich das Urteil nicht näher. Ihm ist aber zu entnehmen, dass die Zeugin in Gesprä-chen mit Ärzten eines psychiatrischen Krankenhauses, in dem der Angeklagte sich im Jahr 2004 zur Behandlung einer Depression aufgehalten hatte, verbal-aggressives Verhalten des Angeklagten geschildert, körperliche Übergriffe jedoch entschieden verneint hatte. Den Inhalt weiterer in diesem Zeitraum geführ-ter Unterredungen der Zeugin mit einem Vertrauten, dem Zeugen Ge. Ei. , teilt das Urteil nicht mit. Aus den polizeilichen Vernehmungen des Zeugen Eibl und der Zeugin G. ergibt sich, dass beide Zeugen zahlreiche intensive Ge-spräche über die familiäre Situation der Zeugin G. geführt haben. Die Zeugin brachte dabei zunächst ihre Überzeugung zum Ausdruck, in einer glücklichen Ehe und heilen Familie zu leben. Nach dem Eindruck des – von der Zeugin
G. als “Hobbypsychologen” beschriebenen – Zeugen Ei. lagen dieser Ü-berzeugung jedoch verdrängte familiäre Probleme zugrunde. Auf Anraten des Zeugen unterzog die Zeugin G. sich einer „Familienaufstellung“; hierbei und hiernach sei ihr nach Aussage des Zeugen Ei. “nach und nach zu Be-wusstsein gekommen, was überhaupt passiert ist”.
b) Besonderheiten hinsichtlich des Zeugen M. G. finden sich in dessen organischer Hirnschädigung sowie auch hier in den Umständen der Aussageentstehung. Der Zeuge hatte bei seiner von der Revision mitgeteil-ten polizeilichen Vernehmung sexuelle Übergriffe und Schläge mit Gegenstän-den seitens des Angeklagten noch ausdrücklich verneint. Erst in seiner ermitt-lungsrichterlichen Vernehmung schilderte der Zeuge die Geschehnisse, wie sie später Gegenstand der Feststellungen geworden sind, ohne dass ihm seine frühere gegenteilige Aussage hierbei vorgehalten wurde. Die der ermittlungs-richterlichen Vernehmung des Zeugen beiwohnende aussagepsychologische Sachverständige vermutete ausweislich eines von der Revision mitgeteilten Ak-tenvermerkes der Staatsanwaltschaft, dass der Aussage durch Suggestion her-vorgerufene Pseudoerinnerungen zugrunde liegen könnten.
c) Hinsichtlich beider Zeugen war zudem zu berücksichtigen, dass Sachverständigengutachten über die Glaubwürdigkeit der über ähnliche Miss-brauchserfahrungen berichtenden familienangehörigen Zeugen S. und K. G. vorlagen, in welchen die Sachverständige erhebliche Anzeichen für eine wechselseitige innerfamiliäre Beeinflussung der Zeuginnen dokumen-tiert hatte. Auch wenn die Kammer dem Ergebnis der Gutachten nicht gefolgt ist, boten sie bei Würdigung der Aussagen weiterer als Zeugen vernommener Familienmitglieder doch Anlass für eine besonders kritische Prüfung möglicher suggestiver Einflüsse und hierdurch hervorgerufener Fehlerinnerungen.
Vor dem Hintergrund all dieser Besonderheiten durfte die Kammer sich nicht für befugt halten, über die Glaubhaftigkeit der den Angeklagten belasten-den Aussagen der Zeugen E. und M. G. aus eigener Sach-kunde zu entscheiden; vielmehr hätte es der Einholung eines aussagepsycho-logischen Sachverständigengutachtens bedurft (vgl. BGH NStZ 2001, 105).
3. Der Verfahrensmangel führt zur Aufhebung aller Urteilsfeststellungen, soweit sie der Verurteilung des Angeklagten zugrunde liegen. Denn die Kam-mer hat die Aussagen dieser beiden Zeugen zur Feststellung sämtlicher Tat-komplexe in wechselnder Beteiligung herangezogen.
Auf die weiteren von der Revision erhobenen verfahrensrechtlichen Beanstandungen und auf die Sachrüge kommt es hiernach nicht mehr an.
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II. Der Senat hat Anlaß zu folgendem Hinweis: Der Tatrichter ist nicht gehindert, die Glaubwürdigkeit eines Zeugen anders zu beurteilen als ein hierfür herangezogener Sachverständiger, denn das von diesem erstattete Gutachten kann stets nur eine Grundlage der eigenen Überzeugungsbildung sein. Er muss dann aber die wesentlichen Ausführungen des Sachverständigen im Einzelnen darlegen, insbesondere die Stellungnahme des Sachverständigen zu den Gesichtspunkten, auf die er seine abweichende Auffassung stützt. Dem Revisi-onsgericht ist ansonsten keine Prüfung möglich, ob der Tatrichter das Gutach-ten zutreffend gewürdigt und aus ihm rechtlich zulässige Schlüsse gezogen hat (st. Rspr.; BGH NStZ 2000, 550f.; BGHR StPO § 261 Sachverständiger 1 und 5). Zu den Anforderungen an ein aussagepsychologisches Gutachten, welche von der herangezogenen Sachverständigen hier beachtet wurden, weist der Senat auf BGHSt 45, 164 hin.
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