In seiner Entscheidung vom 6.4.2006 in dem Verfahren B 7a AL 64/05 R hat das Bundessozialgericht sich mit der Aufhebung bzw. Rücknahme von Arbeitslosenhilfebewilligungsbescheiden und der Frage der Anhörungspflicht befasst:
Die Revision des Klägers ist begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz ); das LSG hat zu Unrecht die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurück- und die Klage abgewiesen.
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist nur noch der Bescheid der Beklagten vom 20. April 2004, der gemäß § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des Klageverfahrens geworden ist. Dieser (Zweit-)Bescheid (vgl BSGE 87, 132, 136 = SozR 3-4700 § 128 Nr 10 und BSGE 75, 159, 164 = SozR 3-1300 § 41 Nr 7; s auch Thelen, DAngVers 1985, 363 ff) hat den Bescheid vom 17. April 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. August 2003 auch ohne ausdrückliche Aufhebung dieses Bescheids in der Sache ersetzt, sodass sich der ursprüngliche Bescheid gemäß § 39 Abs 2 SGB X erledigt hat. Über die im Bescheid vom 20. April 2004 ausgesprochene Aufrechnung hat der Senat allerdings auf Grund des Teilvergleichs (§ 101 Abs 1 SGG) vom 6. April 2006 nicht zu befinden.Dass die Beklagte den Bescheid vom 20. April 2004 formal als Änderungsbescheid bezeichnet hat, ist nicht entscheidungserheblich. Maßgeblich ist die vom Bescheid selbst ausgehende Wirkung. Offenbar war die Beklagte der Ansicht, ihr früherer Bescheid sei in vollem Umfange aus drei Gründen rechtswidrig: (1) falsche Ermächtigungsgrundlage, § 48 SGB X statt wie im früheren Bescheid § 45 SGB X; (2) Begründung der Entscheidung mit fehlendem Nachweis der Eigenbemühungen statt wie früher mit fehlenden Eigenbemühungen; (3) Bewilligung von Alhi für die Zeit vom 28. und 29. Januar 2003 erst nach dem ersten Aufhebungs- und Erstattungsbescheid mit Bescheid vom 19. September 2003, nachdem die frühere Bewilligung zum Zeitpunkt des ersten Aufhebungsbescheids vom 17. April 2003 bereits durch Bescheid vom 3. Februar 2003 aufgehoben war. Unabhängig davon, ob tatsächlich in vollem Umfang ein neuer Bescheid erforderlich gewesen wäre, macht jedenfalls das Vorgehen der Beklagten hinreichend deutlich, dass der neue Bescheid in vollem Umfang an die Stelle des früheren Bescheids in der Gestalt des Widerspruchsbescheids treten sollte. Da der Bescheid zumindest im Hinblick auf den zuvor unter (3) aufgeführten Grund eine neue Verfügung enthält, handelt es sich nicht um einen wiederholenden Bescheid ohne eigene Regelung (vgl zu dieser Problematik allgemein nur Engelmann in von Wulffen, SGB X, 5. Aufl 2005, § 31 RdNr 32 mwN).
Dies hat zur Konsequenz, dass auch der neue Bescheid vom 20. April 2004 an den gesetzlichen Vorgaben der §§ 45, 48 SGB X iVm § 330 SGB III zu messen ist, soweit er die Bewilligung von Alhi aufhebt. Dabei kann für die Entscheidung dahinstehen, welche dieser Normen (§ 45 SGB X oder § 48 SGB X) – ggf für welchen Bewilligungszeitraum – insoweit anwendbar ist. Unabhängig davon ist der Bescheid in jedem Fall aus verfahrensrechtlichen Gründen rechtswidrig. Es ist deshalb auch ohne Bedeutung, ob die Beklagte am Erlass eines Zweitbescheids gehindert war, bzw ob dieser selbst gegenüber dem ersten Rücknahmebescheid an §§ 45, 48 SGB X zu messen ist.
Soweit es die Aufhebung der Bewilligung von Alhi für die Zeit vom 30. Januar bis 28. März 2003 betrifft, ergibt sich die Rechtswidrigkeit aus § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X, der auch bei Anwendung des § 48 SGB X zur Anwendung gelangt (vgl § 48 Abs 4 Satz 2 SGB X). Nach § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X muss die Behörde, wenn sie einen Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurücknimmt bzw aufhebt, dies innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen tun, welche die Rücknahme bzw Aufhebung des Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen. Diese Voraussetzungen sind für den bezeichneten Zeitraum nicht erfüllt. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSGE 74, 20 ff = SozR 3-1300 § 48 Nr 32; BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 27) beginnt der Einjahreszeitraum in jedem Falle schon dann, wenn die Behörde der Ansicht ist, dass die ihr vorliegenden Tatsachen für eine Rücknahme bzw Aufhebung der Bewilligung genügen. Dies war spätestens am 17. April 2003 der Fall, weil die Beklagte die Bewilligung bereits mit Bescheid vom 17. April 2003 für den gesamten Zeitraum erstmals aufgehoben hatte. Dass sich dieser Bescheid durch den Erlass des neuen Bescheides vom 20. April 2004 erledigt hat, ändert nichts daran, dass zu diesem Zeitpunkt bereits die Jahresfrist verstrichen war. Die Beklagte hätte vielmehr, wenn sie der Ansicht war, ihr früherer Bescheid sei rechtswidrig und müsse deshalb zurückgenommen oder ersetzt werden, einen neuen Bescheid innerhalb der Jahresfrist erlassen müssen. Dies gebietet der Sinn der Jahresfrist, die nicht dem Vertrauensschutz, sondern der Rechtssicherheit dient (BSGE 74, 20, 26 = SozR 3-1300 § 48 Nr 32). Ob der Bescheid insoweit (für die Zeit vom 30. Januar bis 28. März 2003) auch wegen fehlender Anhörung (§ 24 SGB X) rechtswidrig ist, bedarf damit keiner Entscheidung.
Soweit der Bescheid vom 20. April 2004 die Alhi für den 28./29. Januar 2003 betrifft, ist er zwar nicht wegen Verstoßes gegen § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X, aber wegen eines Verstoßes gegen § 24 SGB X rechtswidrig. § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X greift hier nicht ein, weil die Beklagte Alhi für diese beiden Tage erst nachträglich mit dem Bescheid vom 19. September 2003 (erneut) bewilligt hat, nachdem sie die Bewilligung bis 29. Januar 2003 bereits mit Bescheid vom 3. Februar 2003 wegen Eintritts einer Säumniszeit aufgehoben hatte. Mit dem Bescheid vom 20. April 2004 konnte sie mithin innerhalb der Jahresfrist die im Bescheid vom 19. September 2003 ausgesprochene Bewilligung bzw die frühere Bewilligung, die ohnedies wieder aufgelebt war, noch rechtzeitig aufheben. Allerdings geschah dies, ohne dass dem Kläger zuvor Gelegenheit gegeben worden wäre, zu der Aufhebung Stellung zu nehmen (§ 24 Abs 1 SGB X). Keine der in § 24 Abs 2 SGB X vorgesehenen Ausnahmen für die Anhörung sind vorliegend zu bejahen. Eine erneute Anhörung war auch nicht entbehrlich; der Bescheid vom 20. April 2004 enthält zumindest für den 28./29. Januar 2003 eine neue Beschwer.
Die fehlende Anhörung ist schließlich nicht gemäß § 41 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 3 SGB X bis zur letzten Tatsacheninstanz nachgeholt worden; im Revisionsverfahren kann dies nicht mehr geschehen. Dabei kann dahinstehen, ob der Senat der Rechtsprechung des 4. Senats des BSG folgt, wonach unter bestimmten Voraussetzungen eine Nachholung im Gerichtsverfahren überhaupt nicht mehr möglich ist (BSG SozR 3-1300 § 24 Nr 22). Jedenfalls setzt eine Nachholung der Anhörung im Gerichtsverfahren ein entsprechendes mehr oder minder förmliches Verwaltungsverfahren – gegebenenfalls unter Aussetzung des Gerichtsverfahrens (§ 114 Abs 2 Satz 2 SGG) – voraus (BSG SozR 3-1300 § 24 Nr 22 S 74; Wiesner in von Wulffen, SGB X, 5. Aufl 2005, § 41 RdNr 8; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 7. Aufl 2000, § 45 RdNr 45 f; Waschull in LPK-SGB X, § 41 RdNr 15). Es genügt also nicht, dass – wie im Widerspruchsverfahren – der Betroffene auf Grund des Bescheides die Möglichkeit hatte, Stellung zu nehmen. Vielmehr muss gewährleistet sein, dass die Beklagte selbst dem Betroffenen die Möglichkeit gibt, sich zu der bereits vorliegenden Entscheidung zu äußern, um dann zumindest formlos darüber zu befinden, ob sie bei ihrer Entscheidung verbleibt (vgl Steinwedel in Kasseler Kommentar, § 41 SGB X RdNr 18, Stand Mai 2003, mwN zur Rspr des BVerwG). Dies ist – im Unterschied zum Widerspruchsverfahren, in dem noch ein Widerspruchsbescheid folgt – nicht gewährleistet, wenn lediglich das Gericht den Betroffenen im Rahmen des Klageverfahrens diese Möglichkeit eröffnet.
Die Entscheidung kann im Volltext hier auf den Seiten des BSG abgerufen werden.