In seiner Entscheidung vom 4. April 2006 hat das Bundesverfassungsgericht in dem Verfahren 2 BvR 523/06 eingehend zum Verfahren der Haftprüfung und der Haftbeschwerde Stellung genommen:
Auf Grund der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und 3 i.V.m. Art. 104 GG) muss das Verfahren der Haftprüfung und Haftbeschwerde so ausgestaltet sein, dass nicht die Gefahr einer Entwertung der materiellen Grundrechtsposition besteht (vgl. hierzuBVerfGE 53, 30 <65>; 63, 131 <143>). Dem ist durch eine verfahrensrechtliche Kompensation (vgl. BVerfGE 17, 108 <117 ff.>; 42, 212 <219 f.>; 46, 325 <334 f.> ) des mit dem Freiheitsentzug verbundenen Grundrechtseingriffs, namentlich durch erhöhte Anforderungen an die Begründungstiefe von Haftfortdauerentscheidungen Rechnung zu tragen (vgl.BVerfGE 103, 21 <35 f.> ). Die mit Haftsachen betrauten Gerichte haben sich bei der zu treffenden Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft mit deren Voraussetzungen eingehend auseinander zu setzen und diese entsprechend zu begründen. In der Regel sind in jedem Beschluss über die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft aktuelle Ausführungen zu dem weiteren Vorliegen ihrer Voraussetzungen, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten (vgl. Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 7. August 1998 – 2 BvR 962/98 -, StV 1999, S. 40, und vom 10. Dezember 1998 – 2 BvR 1998/98 -, StV 1999, S. 162; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 13. September 2001 – 2 BvR 1316/01 -, NJW 2002, S. 207 f.). In diesem Zusammenhang hat sich das die Haftfortdauer anordnende Gericht auch zur voraussichtlichen Gesamtdauer des Verfahrens, zu der für den Fall einer Verurteilung konkret im Raum stehenden Straferwartung und – unter Berücksichtigung einer etwaigen Aussetzung des Strafrestes gemäß § 57 StGB – zum hypothetischen Ende einer möglicherweise zu verhängenden Freiheitsstrafe zu verhalten. Diese Ausführungen müssen in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Fachgericht im Rahmen einer Eigenkontrolle gewährleisten und in sich schlüssig und nachvollziehbar sein (Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 16. März 2006 – 2 BvR 170/06 -, Abs.-Nr. 32).
Eine Begründung, die sich in der bloßen Wiedergabe des Gesetzeswortlauts erschöpft, kann in keinem Fall genügen (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 6. August 1990 – 2 BvR 918/90 -, NJW 1991, S. 689). Auch Bezugnahmen auf vorangegangene Haftfortdauerentscheidungen sind – selbst bei weitgehend unverändertem Sachverhalt – nur in engen, hier nicht weiter zu erörternden Grenzen statthaft, weil sich die für eine Haftfortdauer maßgeblichen Umstände angesichts der seit der letzten Entscheidung verstrichenen Zeit in ihrer Gewichtigkeit verschieben können (vgl. Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 7. August 1998 – 2 BvR 962/98 -, StV 1999, S. 40, und vom 10. Dezember 1998 – 2 BvR 1998/98 -, StV 1999, S. 162; Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Februar 2000 – 2 BvR 453/99 -, NJW 2000, S. 1401 f., und vom 13. September 2001 – 2 BvR 1316/01 -, NJW 2002, S. 207 f.; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 27. August 2003 – 2 BvR 1324/03 -, BVerfGK 1, 340 <341 f.>).
2.
Die aktuelle Bewertung des Verfahrensstandes beinhaltet auch die Prüfung, ob dem Beschleunigungsgebot entsprochen wurde. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG garantiert die Freiheit der Person. In diesem Freiheitsgrundrecht ist das in Haftsachen geltende verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot angesiedelt (vgl.BVerfGE 46, 194 <195> m.w.N.). Das Bundesverfassungsgericht hat daher in ständiger Rechtsprechung betont, dass der Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Beschwerdeführers den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßigen Freiheitsbeschränkungen ständig als Korrektiv entgegenzuhalten ist (vgl.BVerfGE 19, 342 <347>; 20, 45 <49 f.> ) und sich sein Gewicht gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößern kann (vgl.BVerfGE 36, 264 <270>) und regelmäßig vergrößern wird (vgl. BVerfGE 53, 152 <158 f.> ). Das bedeutet, dass ein Eingriff in die Freiheit nur hinzunehmen ist, wenn und soweit der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters nicht anders gesichert werden kann als durch die vorläufige Inhaftierung des Verdächtigen (vgl.BVerfGE 19, 342 <347 f.> ). Auch unabhängig von der zu erwartenden Strafe setzt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Haftdauer Grenzen. Dem trägt § 121 Abs. 1 StPO insoweit Rechnung, als der Vollzug der Untersuchungshaft vor Ergehen eines Urteils wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden darf, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zugelassen haben und die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen. Die Vorschrift des § 121 Abs. 1 StPO lässt nur in begrenztem Umfang eine Fortdauer der Untersuchungshaft zu und ist eng auszulegen (vgl.BVerfGE 20, 45 <50>; 36, 264 <270 f.>).
Die in § 121 Abs. 1 StPO bestimmte Sechs-Monats-Frist stellt dabei nur eine Höchstgrenze dar. Aus dieser Vorschrift kann nicht der Schluss gezogen werden, dass das Strafverfahren bis zu diesem Zeitpunkt nicht dem Beschleunigungsgebot gemäß geführt werden muss. Vielmehr gilt auch vor diesem Zeitpunkt der Grundsatz, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen zumutbaren Maßnahmen zu ergreifen haben, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen (vgl. Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, 3. Aufl., Rn. 837). Daher kann die Verletzung des Beschleunigungsgebots auch schon vor Ablauf der Sechs-Monats-Frist des § 121 Abs. 1 StPO die Aufhebung des Haftbefehls gebieten, wenn es auf Grund vermeidbarer Fehler der Justizorgane zu einer erheblichen Verzögerung kommt. Muss etwa eine Hauptverhandlung ausgesetzt werden, weil die Untersuchungshaftanstalt aus organisatorischen Gründen nicht in der Lage ist, den Angeklagten vorzuführen und trifft der erkennende Richter keine Maßnahmen um eine alsbaldige Hauptverhandlung zu ermöglichen, so kann dies auch nach einer nur zweimonatigen Untersuchungshaft zur Aufhebung eines Haftbefehls wegen Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot führen (HansOLG Hamburg, Beschluss vom 26. Mai 1993 – 2 Ws 270/93, StV 1993, S. 375 f.).
3.
Wird die von Verfassungs wegen gebotene Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Beschuldigten und dem staatlichen Strafverfolgungsinteresse (vgl.BVerfGE 20, 45 <49 f.> ) nicht – auch nicht ansatzweise – vorgenommen, die Haftfortdauer lediglich mit der bloßen Wiedergabe des Gesetzeswortlauts begründet oder nicht einmal die weitere gesetzliche Voraussetzung einer Rechtfertigung der Fortdauer der Untersuchungshaft überhaupt erwähnt (vgl. Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 7. August 1998 – 2 BvR 962/98 -, StV 1999, S. 40, und vom 10. Dezember 1998 – 2 BvR 1998/98 -, StV 1999, S. 162), liegt mit anderen Worten ein Abwägungsausfall vor, so hat dies regelmäßig eine Verletzung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) zur Folge. Gleiches hat auch für den Fall eines für das Abwägungsergebnis erheblichen Abwägungsdefizits (es wird nicht eingestellt, was nach Lage der Dinge eingestellt werden muss) oder einer Abwägungsdisproportionalität (Fehlgewichtung einzelner oder mehrerer Belange) zu gelten (Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 16. März 2006 – 2 BvR 170/06 -, Abs.-Nr. 33).
Die Entscheidung im Volltext kann hier abgerufen werden.