
Das LG Frankfurt hat in seiner Entscheidung vom 20.7.2020 (5/24 KLs 7840 Js 249391/10 (5/24 KLs 10/16)) festgestellt, dass die Beiordnung eines Pflichtverteidigers auch nach rechtskräftigem Verfahrensabschluss möglich ist und im Übrigen auch durch schlüssiges Verhalten des Gerichts begründet werden kann.
Mit Beschluss vom 12.05.2020 hatte das LG Frankfurt – Rechtspfleger – den Pflichtverteidigervergütungsantrag mit folgender knappen Begründung zurückgewiesen:
[…]wird dem Rechtsmittel des Rechtsanwalts Sokolowski vom 22.05.2020 gegen den Beschluss vom 06.04.2020 nicht abgeholfen.
Gründe:
Ein Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse besteht nur aufgrund einer Beiordnung. Im vorliegenden Verfahren ist lediglich die Beiordnung vom 10.10.2019 ersichtlich. Da das Verfahren mit Urteil vom 29.05.2019, rechtskräftig seit dem 06.06.2019, beendet wurde erfolgte die Beiordnung erst nach Abschluss des Verfahrens.
Eine rückwirkende Beiordnung für das abgeschlossene Verfahren ist unzulässig und unwirksam.
Rechtspfleger
Dieser Rechtsauffassung ist die Kammer des LG Frankfurt mit ihrem Beschluss vom 20.07.2020 nicht gefolgt und hat dem Verutreilten nachträglich einen Pflichtverteidiger beigeordnet und die Akten dem zuständigen Rechtspfleger erneut zur Festsetzung der Pflichtverteidigervergütung vorgelegt.
Die Entscheidung im Volltext:
Beschluss
In der Strafsache
gegen ***
geboren am *** in ***
wohnhaft ***
Verteidiger: Rechtsanwalt Joachim Sokolowski
Offenbacher Str. 99, 63263 Neu-Isenburg
u.a.
wegen Steuerhinterziehung
hier: nachträgliche Beiordnung des Rechtsanwalts SOKOLOWSKI
wird dem Verurteilten *** Herr Rechtsanwalt Joachim SOKOLOWSKI, Neu-Isenburg, als Pflichtverteidiger beigeordnet.
Die Beschlüsse des Landgerichts Frankfurt am Main — Rechtspfleger — vom 06.04.2020 und 26.06.2020 werden aufgehoben. Die Akten werden dem Rechtspfleger zwecks Festsetzung der Verteidigervergütung erneut vorgelegt.
Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei. Kosten werden nicht erstattet.
Gründe:
I.
Rechtsanwalt SOKOLOWSKI zeigte mit Schriftsatz vom 03.04.2012 gegenüber der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main (Hauptakte Band IV, 13I. 999, PDF 326) die Vertretung des (inzwischen) Verurteilten *** an. Mit Schriftsatz vom 31.12.2012 (HA Bd. IV, BI. 1014, PDF 346) beantragte er gegenüber der Staatsanwaltschaft seine Beiordnung. Mit Schriftsatz vom 25.07.2016 (HA Bd. 7, BI. 1514, PDF 95) beantragte Rechtsanwalt SOKOLOWSKI — nach Anklageerhebung —gegenüber der Kammer erneut seine Beiordnung. Diesen Antrag wiederholte er auch mündlich im Rahmen eines im Vorfeld der Hauptverhandlung zwischen Verteidigung, Staatsanwaltschaft und der Kammer am 22.03.2018 stattgefundenen Rechtsgesprächs. Die Hauptverhandlung fand ab dem 13.05.2019 unter Beteiligung des Rechtsanwalts SOKOLOWSKI statt. Das Urteil erging am 29.05.2019 und ist seit dem 06.06.2019 rechtskräftig. Eine Beiordnung erfolgte weder im Ermittlungsverfahren noch im Hauptverfahren. Die Kammer hat die beantragte Beiordnung dabei versehentlich trotz Vorliegens ihrer Voraussetzungen nicht vorgenommen.
Im Kostenverfahren wurde Rechtsanwalt SOKOLOWSKI die beantragte Festsetzung der Pflichtverteidigergebühren mit Beschluss vom 06.04.2020 — mangels Beiordnungsbeschluss — verweigert. Gegen diesen Beschluss des Rechtspflegers legte er mit Schriftsatz vom 22.05.2020 „Rechtsmittel“ ein. Er beantragte, unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses die ihm aus der Staatskasse zustehenden Pflichtverteidigergebühren gemäß seinem Antrag vom 14.12.2019 auf € 2.259,90 festzusetzen und auf sein Kanzleikonto anzuweisen. Vorsorglich beantragte er weiter, ihn auf seine bisherigen Anträge nunmehr beizuordnen, hilfsweise dem *** einen Pflichtverteidiger zu bestellen und ihn beizuordnen sowie äußert hilfsweise, die Pflichtverteidigerbeiordnung vom 10.10.2019 in dem Verfahren 5/24 KLs 7840 Js 230558/19 (14/19) auf das hiesige Verfahren zu erstrecken.
Der zuständige Bezirksrevisor beantragte mit Stellungnahme vom 24.06.2020 das als Erinnerung verstandene „Rechtsmittel“ der Verteidigung zurückzuweisen. Unter dem 26.06.2020 erfolgte die Nichtabhilfeentscheidung des zuständigen Rechtspflegers. Die Verteidigung legte vorsorglich mit weiterem Schriftsatz vom 02.07.2020 erneut „Rechtsmittel“ ein. Der Vorgang liegt nunmehr der Kammer zur Entscheidung vor.
II.
Die Erinnerung nach § 56 RVG ist zulässig und begründet. Die Beiordnung des Rechtsanwalts SOKOLOWSKI gemäß §§ 140, 141 StPO war seitens der Kammer versehentlich unterblieben und konnte auch nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens noch nachgeholt werden.
Insoweit schließt sich die Kammer den zutreffenden Ausführungen des Landgerichts Stuttgart in der Entscheidung vom 18.07.2020 an. Dort heißt es auszugsweise:
[Anmerkung von mir: Gemeint ist wohl die Entscheidung des LG Stuttgart vom 18.07.2008, 7 Qs 64/08]
„(…) Soweit von der Gegenansicht die rückwirkende Bestellung abgelehnt wird (OLG Düsseldorf StraFo 2003, 94; KG MV 2006, 372 ff.; KG StV 2007, 343 f; OLG Bamberg NJW 2007, 3796 f.), da die Beiordnung allein den Zweck verfolge, im öffentlichen Interesse einen ordnungsgemäßen Verfahrensablauf und rechtskundigen Beistand für den Betroffenen zu gewährleisten, dies jedoch nachträglich nicht mehr erreicht werden könne, da der Verteidiger seine Leistung bereits als Wahlverteidiger erbracht habe und die nachträgliche Bestellung daher auf eine unmögliche Leistung gerichtet sei (KG StV 2007 a. a. 0.), so überzeugt dies nicht.
Die §§ 140 ff. StPO setzen den Anspruch des mittellosen Beschuldigten auf Beiordnung gem. Art. 6 Abs. 3 c) MRK um, weshalb die rückwirkende Beiordnung entgegen der Auffassung des Kammergerichts nicht in einem diametralen Gegensatz zum gesetzlichen Leitbild der Pflichtverteidigung steht, sondern dem Umstand Rechnung trägt, dass der Anspruch des Beschuldigten nicht allein dadurch obsolet werden kann, dass auf seinen Antrag nicht reagiert wurde (Wohlers, StV 2007, 379). Zwar ist zutreffend, dass der Beschuldigte auch im Falle der Beiordnung nicht von der Tragung der Verfahrenskosten verschont bleibt, und dass die Pflichtverteidigung keine Sozialregelung für mittellose Beschuldigte darstellt. Jedoch steht – wie oben ausgeführt – nicht das Verschaffen eines nachträglichen Gebührenanspruchs für den Verteidiger, sondern die Korrektur eines Gerichtsversehens im Vordergrund. Die gebührenrechtliche Rückwirkung wird vom Gesetzgeber für zulässig gehalten (vgl. 5 48 Abs. 5 RVG), weshalb das fiskalische Argument nicht durchgreift, zudem erscheint es sachgerechter, den Angeschuldigten so zu stellen, als ob über den Antrag von Anfang an zutreffend entschieden worden wäre, nachdem die Gegenmeinung ansonsten einen Schadensersatzanspruch aus Amtspflichtverletzung in Erwägung zieht (LG Saarbrücken a. a. 0.). Die vorgeschlagene Vorgehensweise, ein Verteidiger, der nur als Pflichtverteidiger auftreten möchte, solle dies bedingungslos tun und ausschließlich den Beiordnungsantrag stellen ohne als Wahlverteidiger aufzutreten sowie bei verzögerter Bearbeitung des Antrages bei Gericht Untätigkeitsbeschwerde erheben (KG StV 2007 a. a. 0.), erscheint bei einem im Interesse des Beschuldigten notwendig erscheinenden sofortigen Handeln wenig praktikabel (Meyer-Goßner a. a. O.). § 141 Abs. 1 und 2 StPO normieren ja gerade die Bestellung unmittelbar nach Mitteilung der Anklageschrift gem. § 201 StPO bzw. sofort nachdem sich die Notwendigkeit ergibt (….)“
(Landgericht Stuttgart, Entscheidung vom 18.07.2020, Az.: 7 Os 64/08, BeckRS 2008, 17089 Rn. 7 m.w.N.; Schmitt in: Meyer-Goßner/ Schmitt; 62. Auflage, 2019; § 141, Rn. 8).
Im Übrigen ist anerkannt, dass eine Bestellung ausnahmsweise auch durch schlüssiges Verhalten begründet werden kann. Dieses kann etwa in der Aufforderung, für den Angeklagten als Verteidiger tätig zu werden oder in der gesetzlich gebotenen Inanspruchnahme eines Verteidigers, der nicht Wahlverteidiger ist, bzw. in dem widerspruchslosen Mitwirkenlassen im Verfahren gesehen werden (Schmitt in: Meyer-Goßner/ Schmitt; a.a.O., Rn. 7 m.w.N.). Vor diesem Hintergrund muss eine versehentlich unterbliebene Beiordnung nachträgliche per ausdrücklicher Beschlussfassung erst Recht möglich sein.
Die Akten werden dem zuständigen Rechtspfleger erneut zur Festsetzung der Pflichtverteidigervergütung vorgelegt.
Vorsitzender Richter am Landgericht Richter Richterin am Landgericht