Zur rückwirkenden Bestellung eines Pflichtverteidigers gibt es auch nach Umsetzung der Richtlinie 2016/1919/EU („PKH-Richtlinie“) durch das Gesetz zur Neureglung der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 keinen Anlass.
Diesen Leitsatz hat das OLG Braunschweig zu seinem Beschluss vom 02.03.2021, (1 Ws 12/21) aufgestellt.
Die Rechtsauffassung des OLG ist m.E. unzutreffend, denn sie führt letztendlich dazu, dass das Gericht den Beiordnungsantrag nur so lange liegen lassen muss bis das Verfahren beendet ist, um eine Pflichtverteidigerbeiordnung zu verhindern.
Die Entscheidungsgründe im Volltext:
Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen mit Sitz bei dem Amtsgericht Rotenburg/Wümme vom 7. Dezember 2020 ist erledigt.
I.
Am 18. September 2006 verurteilte das Landgericht Braunschweig den Beschwerdeführer (nachfolgend auch Verurteilten) wegen gemeinschaftlichen Mordes in zwei Fällen – begangen jeweils in Tateinheit mit Raub mit Todesfolge – zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Zugleich ordnete die Schwurgerichtskammer seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt an, die derzeit vollstreckt wird.
Aus Anlass der gemäß § 67e Abs. 2 StGB anstehenden Entscheidung zur Überprüfung der Fortdauer der Maßregel hat sich Rechtsanwalt P mit Schriftsatz vom 8. Oktober 2020 für den Beschwerdeführer legitimiert. Der Verurteilte habe ihn beauftragt, ihn bei der nächsten „Anhörung“ zu vertreten, und beantrage seine Beiordnung als Pflichtverteidiger.
Mit Beschluss vom 27. November 2020 hat die große Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen mit Sitz bei dem Amtsgericht Rotenburg/Wümme sodann nach Anhörung des Beschwerdeführers die Fortdauer der Maßregel angeordnet. Den Beiordnungsantrag des im Anhörungstermin anwesenden Wahlverteidigers hat die Kammer erst mit Beschluss vom 7. Dezember 2020 zurückgewiesen.
Der Beschluss vom 27. November 2020 ist seit dem 5. Januar 2021 rechtskräftig, nachdem weder der Verurteilte noch die Staatsanwaltschaft ein Rechtsmittel eingelegt hatten.
Gegen die seinem Verteidiger am 22. Dezember 2020 formlos bekanntgegebene Entscheidung vom 7. Dezember 2020 hat der Verurteilte hingegen mit Schriftsatz vom 23. Dezember 2020 sofortige Beschwerde eingelegt.
Er vertritt die Auffassung, dass eine rückwirkende Beiordnung zulässig sei. Die gegenteilige Rechtsprechung sei, wie das Oberlandesgericht Nürnberg zutreffend ausgeführt habe, nach der Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung nicht mehr mit dem Gesetz vereinbar.
Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, die sofortige Beschwerde als unbegründet zu verwerfen. Ein Fall der notwendigen Verteidigung liege nicht vor.
II.
Das Rechtsmittel ist als sofortige Beschwerde statthaft (§ 142 Abs. 7 Satz 1 StPO) und sowohl form- als auch fristgerecht eingelegt worden. Die sofortige Beschwerde ist jedoch wegen prozessualer Überholung nach ihrer Einlegung gegenstandslos geworden und damit nunmehr mangels Beschwer unzulässig.
Im Beschwerdeverfahren ist das Fortbestehen einer Beschwer im Zeitpunkt der Entscheidung des Rechtsmittelgerichts Voraussetzung für die Sachentscheidung. Die Beschwer fehlt, wenn das beanstandete Geschehen nicht mehr korrigiert werden kann oder wenn es durch die Entwicklung des Verfahrens überholt ist (KG Berlin, Beschluss vom 27. Februar 2006, 1 AR 1471/05 – 3 Ws 624/05, juris, Rn. 2; KG Berlin, Beschluss vom 6. August 2009, 1 AR 1189/09 – 4 Ws 86/09, juris, Rn. 4; OLG Hamburg, Beschluss vom 16. September 2020, 2 Ws 112/20, juris, Rn. 13; Paul in Karlsruher Kommentar zur StPO, 8. Aufl. 2019, Rn. 7 vor § 296). Ein solcher Fall liegt hier nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens über die Fortdauer der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt vor, weil die Beiordnung eines Pflichtverteidigers allein im öffentlichen Interesse zur Sicherung eines ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs erfolgt (BGH, Beschluss vom 18. August 2020, StB 25/20, juris, Rn. 6 f.; KG Berlin, Beschluss vom 27. Februar 2006, a.a.O., Rn. 2; OLG Bremen, Beschluss vom 23. September 2020, 1 Ws 120/20, juris, Rn. 6) und dieses Ziel nach ordnungsgemäßer Durchführung des Überprüfungsverfahrens unter Mitwirkung von Rechtsanwalt P als Wahlverteidiger bereits erreicht ist.
Im Gegensatz zur Auffassung des Oberlandesgerichts Nürnberg (Beschluss vom 6. November 2020, Ws 962 – 963/20, juris) hat sich an dieser Rechtslage auch nach der Reform durch das Gesetz zur Neureglung der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 nichts geändert. Denn mit der Neuregelung, die die Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (PKH-Richtlinie) bezweckte, sollte nach dem Willen des Gesetzgebers (vgl. dazu S. 20 ff. des Gesetzentwurfs der Bundesregierung, Drucksache 19/13829) gerade kein Systemwechsel verbunden sein (OLG Hamburg, a.a.O., Rn.16). Vielmehr ergibt sich aus den Gesetzesmaterialen (S. 44 der Drucksache 19/13829) ausdrücklich, dass die sofortige Beschwerde eine fortbestehende Beschwer voraussetzt (so auch BGH, a.a.O., Rn. 8 f. [unter Hinweis auf S. 49 der Drucksache 19/13829 für die Frage der sofortigen Beschwerde nach § 143 a Abs.4 StPO] und OLG Hamburg, a.a.O., Rn. 16).
Wie das Oberlandesgericht Hamburg (a.a.O., Rn.15) zutreffend ausgeführt hat, folgt auch kein anderes Ergebnis aus Art. 4 Abs.1 der PKH-Richtlinie, deren Wertungen das Oberlandesgericht Nürnberg (a.a.O., Rn. 27) ungeachtet ihres Anwendungsbereichs (dazu Art. 2 der PKH-Richtlinie) auf das Vollstreckungsverfahren übertragen hat. Die Richtlinie sieht nicht vor, den Betroffenen in jedem Fall von den Kosten der Verteidigung freizuhalten (OLG Hamburg, a.a.O.). Nach Art. 4 Abs. 1 haben die Mitgliedstaaten zwar sicherzustellen, dass die von der Richtlinie erfassten Personen über ausreichende Mittel zur Bezahlung eines Rechtsbeistands verfügen. Die Beiordnung bezweckt jedoch den „Zugang zu einem Rechtsanwalt“ (Art. 3 der PKH Richtlinie) und setzt deshalb gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie voraus, dass die Bereitstellung finanzieller Mittel „im Interesse der Rechtspflege erforderlich“ ist. Ein solches Erfordernis besteht hier gerade nicht mehr, weil das Überprüfungsverfahren, das unter Mitwirkung von Rechtsanwalt P ordnungsgemäß durchgeführt wurde, bereits rechtskräftig abgeschlossen ist.
III.
Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst (OLG Hamburg, a.a.O., Rn. 17; Schmitt in Meyer-Goßner, StPO, 63. Aufl., Rn. 17 vor § 296).
IV.
Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass die Strafvollstreckungskammer im Verfahren über die Fortdauer einer Unterbringung in der Entziehungsanstalt auch dann gemäß § 78b Abs.1 Nr. 2 GVG mit nur einem Richter besetzt ist, wenn die Maßregel neben einer lebenslangen Freiheitsstrafe vollstreckt wird (Siolek in Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 78 b GVG Rn. 3; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 78 b GVG Rn.5).