Beruht eine Erwerbsminderung auf einem Verkehrsunfall, der u.a. darauf zurückzuführen ist, dass der Versicherte vorsätzlich ohne Fahrerlaubnis gefahren ist, kann ein Rentenantrag abgelehnt werden. Dies hat das SG Gießen mit Urteil vom 26.02.2014 (S 4 R 158/12) entschieden und die Klage abgewiesen.
Seine Entscheidung begründet das Gericht u.a. wie folgt:
Der Kläger hat keinen Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung. Einem solchen Anspruch steht die Vorschrift des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VI entgegen. Danach kann eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit ganz oder teilweise versagt werden, wenn der Berechtigte sich die für die Rentenleistung erforderliche gesundheitliche Beeinträchtigung bei einer Handlung zugezogen hat, die nach strafgerichtlichem Urteil ein Verbrechen oder vorsätzliches Vergehen ist.
Die Erwerbsminderung des Klägers beruht auf den Folgen des Unfalls, den er am 11.03.2011 erlitten hat. Hierüber wird zwischen den Beteiligten auch nicht gestritten. Dieser Unfall ist bei einer von dem Kläger begangenen Handlung eingetreten, die nach rechtskräftigem strafgerichtlichem Urteil des Amtsgerichts Groß-Gerau ein vorsätzliches Vergehen ist (dazu 1.). Die Versagung der Leistung durch die Beklagte ist auch im Hinblick auf das der Beklagten eingeräumte Ermessen rechtlich nicht zu beanstanden (dazu 2.)
1. Der Versicherungsfall ist „bei“ einer strafbaren Handlung eingetreten. Das Gericht teilt nicht die Auffassung des Prozessbevollmächtigten des Klägers, es fehle an einem Ursachenzusammenhang zwischen der Vorsatztat und der gesundheitlichen Beeinträchtigung. Ein solcher Ursachenzusammenhang ist zwar notwendig, es genügt nicht, dass „bei Gelegenheit“ einer strafbaren Handlung sich gleichzeitig ein Versicherungsfall ereignet, ohne dass ein Zusammenhang zwischen der strafbaren Handlung und dem Versicherungsfall besteht. Insoweit trifft auch der Hinweis des Prozessbevollmächtigten auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 24.08.1966 – 2 RU 176/65 – BSGE 25, 161, 163 – zum ähnlich formulierten, damals anzuwendenden § 557 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung – zu. Hier ist der Unfall aber nicht „bei Gelegenheit“ einer vorsätzlichen Straftat entstanden, sondern steht mit der vorsätzlich begangenen Straftat in einem unmittelbaren Ursachenzusammenhang. Zu dem Unfall wäre es nicht gekommen, wenn der Kläger nicht ohne Fahrerlaubnis gefahren wäre. Es kommt noch hinzu, dass der Kläger durch ein und dieselbe Handlung zwei Straftaten (Fahren ohne Fahrerlaubnis und fahrlässige Trunkenheit im Verkehr) begangen hat. Die Kammer vertritt die Auffassung, dass sich allein hierdurch schon eine Differenzierung hinsichtlich der Kausalität zwischen der vorsätzlich begangenen und der fahrlässig begangenen Straftat verbietet. Der Straftatbestand der fahrlässigen Trunkenheit im Verkehr konnte nur dadurch verwirklicht werden, dass der Kläger ohne Fahrerlaubnis gefahren ist. Der Unfall ist durch die Verwirklichung beider Straftatbestände entstanden. Der Kläger mag zwar die theoretischen und praktischen Kenntnisse für das Autofahren besitzen. Zum Zeitpunkt des Unfalls besaß er sie aber alkoholbedingt gerade nicht. Die beiden Taten stehen daher in einem ganz engen Zusammenhang. Dies reicht aus, um hier eine Kausalität zwischen dem vorsätzlichen Fahren ohne Fahrerlaubnis und dem Unfall zu begründen.
2. Das durch die Erfüllung des Tatbestandes des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VI eingeräumte Ermessen, die Leistung ganz oder teilweise zu versagen, hat die Beklagte in rechtlich nicht zu beanstandender Weise ausgeübt.
Soweit ein Leistungsträger ermächtigt ist, nach seinem Ermessen zu handeln, ist sein Handeln rechtswidrig, wenn die gesetzlichen Grundlagen dieses Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen einer dem Zwecke des Ermessens nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist (§ 54 Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG- sowie § 39 Abs. 1 Satz 1 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – SGB I – zur Ermessensausübung bei Ermessensleistungen). Umgekehrt hat der Versicherte Anspruch auf eine pflichtgemäße Ausübung des Ermessens (§ 39 Abs. 1 Satz 2 SGB I), nicht aber einen Rechtsanspruch auf einen bestimmten Betrag – bei einem Leistungsbegehren – oder den Verzicht auf jegliche Leistungsbegrenzung – bei einem Streit wie dem vorliegenden -, sofern nicht eine „Ermessensreduzierung auf Null“ eingetreten ist. Derartiges hat der Kläger nicht behauptet. Er hat sich neben Angriffen gegen das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen vor allem gegen die Ermessensausübung der Beklagten gewandt.
Abgesehen von dem hier nicht gegebenen Fall der Ermessensreduzierung auf Null, in dem es nur ein ermessensgerechtes Ergebnis gibt, hat der Gesetzgeber dem Leistungsträger mit Einräumung von Ermessen eine Auswahlbefugnis hinsichtlich mehrerer gleichermaßen rechtmäßiger Entscheidungsmöglichkeiten auf der Rechtsfolgenseite eröffnet, einschließlich der Möglichkeit von einer Leistungsversagung ganz oder teilweise abzusehen. Zur Sicherung dieser Entscheidungsfreiheit des Leistungsträgers ist die Überprüfung seiner Ermessensentscheidung durch das Gericht nur eingeschränkt dahingehend zulässig, ob die gesetzlichen Grundlagen des Ermessens überschritten wurden oder von dem Ermessen in einer dem Zwecke der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wurde (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG). Wenn der Bescheid rechtswidrig ist, darf das Gericht daher auch nur den Bescheid aufheben und den Träger zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts verurteilen, nicht aber eigene Ermessenserwägungen anstellen und sein Ermessen an die Stelle des Ermessens des Leistungsträgers setzen.
Ausgangspunkt bei der Prüfung der Ermessensausübung des Leistungsträgers sind neben dieser allgemeinen Grundregel einerseits die jeweilige Norm, die zur Ermessensausübung ermächtigt, hier also § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VI, sowie andererseits der Bescheid des Leistungsträgers in der Gestalt des Widerspruchsbescheides (§ 95 SGG), weil dieser die Gesichtspunkte erkennen lassen muss, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist, § 35 Abs. 1 Satz 3 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch – SGB X -.
Die Kammer hat hier keinen Ermessensfehler der Beklagten erkennen können. Die Beklagte hat ihre Ermessensentscheidung im Wesentlichen damit begründet, das Verhalten des Klägers habe eine grobe Selbstgefährdung dargestellt und der Kläger habe sich eigenmächtig über anerkannte Grundprinzipien der Versichertengemeinschaft hinweggesetzt, indem er in alkoholisiertem Zustand ein Kraftfahrzeug geführt habe, ohne die erforderliche Erlaubnis zu besitzen. Dem Interesse der Versichertengemeinschaft hat die Beklagte das Interesse des Klägers an der Auszahlung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung gegenüber gestellt und letztlich dem Interesse der Versichertengemeinschaft, die Rente zu versagen, den Vorrang eingeräumt. Diese Abwägung steht in Einklang mit dem Normzweck des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VI. Die Vorschrift soll einen Ausgleich schaffen zwischen dem Grundsatz, dass Sozialrecht keine strafrechtlichen Funktionen wahrzunehmen hat und dem sozialethisch kaum tolerierbaren Ergebnis, dass schwere Strafverstöße auch noch durch Sozialversicherungsleistungen „belohnt“ werden. Letztlich zielt § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VI ähnlich wie § 101 Abs. 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch – SGB VII – sowie die vergleichbaren Vorschriften in der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 52 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – SGB V -) auf die Versagung von sozialem Schutz bzw. sozialer Sicherheit ab, weil der Betreffende durch sein strafrechtlich als Verbrechen oder vorsätzliches Vergehen zu bewertendes Verhalten sozialethische Mindeststandards verletzt hat (vgl. BSG, Urteil vom 18.03.2011, Az.: B 2 U 1/07 R mit Hinweis auf Hänlein, Moral Hazard und Sozialversicherung – Versicherungsverhalten und Versicherungsfall im Sozialversicherungsrecht, Zeitschrift für Versicherungswissenschaft 2002, 579 ff.). Dies ist auch die zutreffende rechtliche Grundhaltung der Beklagten, wie sie von ihr in ihrem Widerspruchsbescheid wiedergegeben wurde. Ein Leistungsträger muss zudem nicht auf alle Umstände des Einzelfalles eingehen, vielmehr genügt es, wenn er die maßgebenden tragenden Gesichtspunkte in der Begründung des Bescheides mitteilt. Die Ausführungen der Beklagten in dem angefochten Widerspruchsbescheid genügen diesen Anforderungen. Das Vorbringen des Klägers, die Versagung der Erwerbsminderungsrente habe für ihn erhebliche wirtschaftliche Folgen ist demgegenüber nicht geeignet, einen Ermessensfehler zu begründen. Die Beklagte hat das Interesse des Klägers an der Auszahlung einer Rente ausdrücklich in ihre Überlegungen mit einbezogen. Die Entscheidung der Beklagten ist daher frei von Ermessensfehlern.
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