… wenn dem Oberlandesgericht eine Prüfung der Voraussetzungen des § 72 Abs. 1 JGG anhand der vorliegenden Akten im Haftprüfungstermin nicht möglich ist.
Anders als im Beschwerdeverfahren kann das Oberlandesgericht die erforderlichen Ermittlungen im Haftprüfungsverfahren nicht selbst anstellen.
Dies hat das OLG Frankfurt in seiner Entscheidung vom 1.04.2019 ( 1 HEs 74/19, 1 HEs 75/19, 1 HEs 76/19) festgesetllt und betreffend eines Angeklagten den Haftbefehl des Landgerichts Darmstadt aufgehoben.
Aus den Entscheidungsgründen:
[…][…]OLG Frankfurt
Die Haftprüfung führt zur Aufhebung des Haftbefehls des Amtsgerichts Darmstadt vom 25. September 2018 gegen den Angeklagten C, da der Haftbefehl nicht den Mindestanforderungen entspricht, die § 72 Abs. 1 S. 3 JGG an den Inhalt eines gegen einen Jugendlichen verhängten Haftbefehls stellt, und der Senat die nach § 72 Abs. 1 JGG erforderliche Subsidiaritätsprüfung ohne weitere Ermittlungen nicht selbst vornehmen kann.
Zwar ist der Angeklagte C der ihm im Haftbefehl vom 25. September 2018 und der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Darmstadt vom 5. Dezember 2018 zur Last gelegten Straftaten der schweren räuberischen Erpressung gemäß §§ 253, 255, 249, 250 Abs. 1 a StGB in zwei Fällen dringend verdächtig. Der dringende Tatverdacht ergibt sich aus den in der Anklageschrift bezeichneten Beweismitteln, insbesondere den geständigen Einlassungen der Angeklagten. Auch ist auf Grund der hohen Straferwartung, der keine ausreichenden fluchthemmenden Bindungen des Angeklagten C entgegenstehen, Fluchtgefahr anzunehmen (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO). Der Angeklagte C hat angesichts der Schwere der ihm vorgeworfenen Taten auch unter Berücksichtigung des weiteren mittlerweile zum hiesigen Verfahren verbundenen Verfahrens wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz (1/18) mit einer gravierenden Jugendstrafe zu rechnen. Über berufliche Bindungen, die dem aus der hohen Straferwartung folgenden Fluchtanreiz entgegenstehen könnten, verfügt der Angeklagte C nicht. Er hat zwar einen Hauptschulabschluss, eine Ausbildung konnte oder wollte er jedoch bisher nicht beginnen. Allein die Beziehung zu seinen Eltern, bei denen er noch wohnt, genügt vor diesem Hintergrund nicht. Aus dem Bericht der Jugendgerichtshilfe des … vom 30. Oktober 2018 (Bd. III, 530) ergibt sich, dass die Eltern ihren Sohn im letzten Jahr vor der Verhaftung durch Gespräche nur schwer erreichen konnten und die Beziehung offensichtlich gestört war.
Der Haftbefehl vom 25. September 2018 entspricht jedoch nicht den besonderen Anforderungen des § 72 Abs. 1 S. 3 JGG, wonach im Haftbefehl die Gründe auszuführen sind, aus denen sich ergibt, dass andere Maßnahmen, insbesondere die einstweilige Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe, nicht ausreichen und die Untersuchungshaft nicht unverhältnismäßig ist. Geboten ist hier eine sorgfältige Prüfung. Wie sich bereits aus der Gesetzesbegründung ergibt, reichen formelhafte Wendungen, die keine Prüfung des Einzelfalls erkennen lassen, grundsätzlich nicht aus (BT-Drs. 11/5829, 31). Durch die Regelung des § 72 Abs. 1 S. 3 JGG sollte sichergestellt werden, dass diese Fragen bei Jugendlichen auf jeden Fall geprüft und im Haftbefehl ausgeführt werden (OLG Hamm, Beschluss vom 17. März 2009, 3 Ws 86/09; Ostendorf, JGG, 10. Aufl., § 72 Rn. 6). Eine solche Prüfung ist im bisherigen Verfahren offensichtlich unterblieben. Der Haftbefehl des Amtsgerichts Darmstadt vom 25. September 2018, der lediglich darauf verweist, dass die Untersuchungshaft im Hinblick auf die Schwere der Taten und das im Verurteilungsfall zu erwartende Strafmaß verhältnismäßig sei, lässt nicht erkennen, ob sich der Haftrichter mit den besonderen Voraussetzungen des § 72 Abs. 1 JGG überhaupt auseinandergesetzt hat. Auch der Haftfortdauerbeschluss des Landgerichts Darmstadt vom 30. Januar 2019 (Bd. IV, 704) setzt sich mit den Anforderungen des § 72 Abs. 1 JGG nicht auseinander.
Zwar führt nach der Rechtsprechung des Senats der Verstoß gegen die Begründungspflicht des § 72 Abs. 1 S. 3 JGG nicht ohne weiteres zur Aufhebung des Haftbefehls. Vielmehr obliegt es dem Oberlandesgericht die allgemeinen Voraussetzungen der Haftfortdauer und damit auch die Subsidiarität im Sinne des § 72 Abs. 1 JGG zu prüfen (Senat, Beschluss vom 26. November 2018, 1 HEs 336/18, Beschluss vom 4. Februar 2013, 1 HEs 192/12; ebenso OLG Zweibrücken, Beschluss vom 15. Juni 2000, 1 HPL 32/00). In Fällen, in denen das Ausscheiden alternativer Unterbringungsmaßnahmen und die gegebene Verhältnismäßigkeit evident sind, kann der Verstoß gegen die Begründungspflicht des § 72 Abs. 1 S. 3 JGG deshalb nicht die Aufhebung des Haftbefehls zur Folge haben. Dies gilt jedoch nur, wenn das Oberlandesgericht die jugendspezifische Prüfung der Haftvoraussetzungen ausnahmsweise ohne weitere Aufklärung allein anhand der vorliegenden Akten vornehmen kann. Ist dem Oberlandesgericht dagegen, wie vorliegend, eine Prüfung auf Grundlage der Akten nicht möglich, kann es die erforderlichen weiteren Ermittlungen nicht selbst anstellen. Dies liefe auf eine Ergänzung des Haftbefehls, die im Haftprüfungsverfahren – anders als im Beschwerdeverfahren – nicht zulässig ist (vgl. hierzu Karlsruher Kommentar zur StPO, 7. Aufl., § 121 Rn. 24a m.w.N.), hinaus. Auch eine Aufrechterhaltung der Haft unter gleichzeitiger Rückgabe der Sache an das zuständige Gericht zur Durchführung weiterer Ermittlungen und gegebenenfalls Neufassung des Haftbefehls kommt nicht in Betracht, andernfalls würde die Untersuchungshaft auf Grund eines rechtswidrigen Haftbefehls aufrechterhalten (OLG Hamm, Beschluss vom 17. März 2009, 3 Ws 86/09).
Aus den Akten ist nicht ersichtlich, ob alternative Unterbringungsmöglichkeiten oder andere Maßnahmen zur Verfügung stehen. Der Bericht der Jugendgerichtshilfe des … vom 30. Oktober 2018 (Bd. III, 529ff) verhält sich hierzu nicht. Weder aus den Tatumständen noch aus dem in dem Jugendgerichtshilfebericht geschilderten persönlichen Werdegang und den aktuellen Lebensverhältnissen des Angeklagten C ergeben sich Anhaltspunkte, aus denen geschlossen werden könnte, dass andere Maßnahmen, insbesondere die einstweilige Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe nicht in Betracht kommen. Ziel einer einstweiligen Unterbringung nach § 71 Abs. 2 JGG ist es, eine rasant negative Entwicklung des Jugendlichen zu unterbrechen und den Jugendlichen vor der Begehung weiterer Straftaten zu bewahren (Beck-OK JGG, 12. Edition, § 71 Rn. 3, 10). Die Vorschrift ist insbesondere relevant für jugendliche Intensivtäter zwischen 14 und 18 Jahren, die noch während laufender Verfahren unbeeindruckt weitere Straftaten begehen und bei denen mit weiteren, gewichtigen Straften gerechnet werden muss, sollten sie in ihrem bisherigen sozialen Umfeld verbleiben und nicht für eine gewisse Zeit aus dieser Umgebung gelöst werden (BT-Drs. 11/5829, 30). Insoweit ist zu berücksichtigen, dass gegen den Angeklagten C bisher keine jugendgerichtlichen Sanktionen oder Strafen verhängt wurden, dass er und seine Familie bisher auch keine Maßnahmen der Jugendgerichtshilfe in Anspruch genommen haben oder auch nur erzieherischer Unterstützungsbedarf gesehen wurde. Gleichzeitig liegen die ihm vorgeworfenen Taten, einschließlich des Verstoßes gegen das Waffengesetz (Verfahren 1/18), in einem Zeitraum von lediglich zwei Wochen (11. September – 25. September 2018) und zeigen angesichts der Schwere der Vorwürfe eine rasant negative Entwicklung. Ausweislich des Berichts der Jugendgerichtshilfe stand der Angeklagte C nach Angaben seiner Eltern in der Zeit vor den hier relevanten Taten zunehmend unter negativen Einflüssen durch ältere Freunde, von denen er sich auf Grund seines jüngeren Alters nicht abgrenzen konnte. Es ist deshalb erforderlich zu prüfen, inwieweit einer weiteren negativen Entwicklung durch die Herausnahme des Angeklagten C aus seinem bestehenden Umfeld entgegengewirkt und weitere Straftaten verhindert werden könnten.
1 HEs 74/19, 1 HEs 75/19, 1 HEs 76/19 , Beschluss vom 1.4.2019