Wird in einem Strafverfahren eine Verzögerungsrüge erhoben und das Verfahren später gemäß § 153 Abs. 1 StPO eingestellt, so stellt dies nur dann eine hinreichende Kompensation im Sinne des § 199 Abs. 3 Satz 1 GVG dar, wenn die unangemessene Verfahrensdauer ein identifizierbarer und prägender Grund für die Einstellung war.
Diese Leitsatz hat das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht zu seiner Entscheidung vom 17.09.2020 (17 EK 2/20) aufgestellt und dem Kläger eine Entschädungung von 3.600,00 € nebst Zinsen zugesprochen.
Die Enstcheidung im Volltext:
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 3.600,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 27. März 2020 zu zahlen.
Der Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Das Urteil ist für den Kläger ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
Der Kläger war neben zwei anderen Tatverdächtigen – u.a. seiner Ehefrau – zunächst Beschuldigter, später Angeklagter in dem bei der Staatsanwaltschaft X. seit dem 13. Mai 2015 geführten Ermittlungsverfahren mit dem Az.: XXX. Dem Kläger wurde eine am 5. Mai 2015 gemeinschaftlich begangene gefährliche Körperverletzung vorgeworfen. Nach Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft X am 1. September 2016 wurde das Verfahren schließlich nach vier Jahren und neun Monaten in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Y. am 18. Februar 2020 gemäß § 153 Abs. 2 StPO mit Zustimmung des Klägers, seines Verteidigers und der Staatsanwaltschaft eingestellt. Das Verfahren gegen die beiden anderen Angeklagten wurde nach § 153a Abs. 2 StPO eingestellt.
Der Klage liegt folgender Gang des Ermittlungsverfahrens zugrunde:
Am 6. Mai 2015 nahm die Polizeistation A. eine Strafanzeige gegen den Kläger und zwei weitere Beschuldigte auf. Ihnen wurde zur Last gelegt, am Abend des 5. Mai 2015 in die Wohnung der Ex-Freundin eines gemeinsamen Bekannten sowie deren Mutter eingedrungen zu sein und diese dabei körperlich misshandelt zu haben, indem sie ihnen u. a. Schläge und Tritte versetzten. Die Vernehmung der Geschädigten, die sich zu diesem Zeitpunkt im Krankenhaus befanden, erfolgte bereits am Tag der Anzeigenaufnahme. Schon zu diesem Zeitpunkt bestanden ausweislich der polizeilichen Feststellungen anlässlich der Aufnahme der Strafanzeige jedenfalls erhebliche Zweifel daran, dass sich der am Tatort anwesende Kläger an diesen Tätlichkeiten aktiv beteiligt hatte.
Auf Antrag der Staatsanwaltschaft X. erließ das Amtsgericht X. unter dem Az.: XXX. am 13. Mai 2015 einen Durchsuchungsbeschluss mit dem Ziel, ein möglicherweise entwendetes Handy sowie einen schlagstockartigen Gegenstand bei den Beschuldigten, so auch dem Kläger, aufzufinden. Der Beschluss wurde am 3. Juni 2015 ergebnislos vollstreckt. Im Anschluss hieran erfolgten Vorladungen an die Beschuldigten zur verantwortlichen Vernehmung, denen sie nicht nachkamen. Alle Beschuldigten beauftragten Verteidiger, welche noch im Juni 2015 Akteneinsicht beantragten. Im Mai und im Juni 2015 wurde sodann noch jeweils ein Zeuge vernommen. Weitere tatrelevante Ermittlungen erfolgten seit diesem Zeitpunkt nicht mehr.
Am 20. Juni 2015 erhob der Verteidiger des Klägers Beschwerde gegen den Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts X. vom 13. Mai 2015, der das Amtsgericht X. nach Vorlage der Akten durch die Staatsanwaltschaft am 24. Juli 2015 nicht abhalf. Die Akten gingen bei dem Landgericht X. – Beschwerdekammer – am 31. Juli 2015 ein. Zu einer Entscheidung über die Beschwerde kam es – ohne, dass in der Zwischenzeit eine verfahrensfördernde Handlung erfolgte – schließlich erst knapp ein Jahr später. Zunächst hatte die Kammer mit einer an die Staatsanwaltschaft X. gerichteten Zuschrift vom 2. September 2015 angefragt, ob eine einheitliche Entscheidung über die zwischenzeitlich weitere Beschwerde gegen die Durchsuchung des Verteidigers einer weiteren Beschuldigten vom 14. Juli 2015 erfolgen solle. Darauf sandte die Staatsanwaltschaft X. mit Zuschrift vom 25. September 2015 die Akten zur Entscheidung über die beiden Beschwerden wieder an die Kammer zurück. Am 18. Dezember 2015 vermerkte die zuständige Kammer, dass eine Bearbeitung „wegen vordringlicher zu bearbeitender Ks- und KLs-Sachen nicht möglich“ sei. Erst mit Verfügung vom 15. April 2016 wurde die Bearbeitung der Beschwerden durch die 1. Große Strafkammer des LG X. wieder aufgenommen, wobei den Verteidigern der Beschuldigten vorab Akteneinsicht gewährt wurde. Mit Beschluss vom 22. Juni 2016 stellte die Kammer die Rechtswidrigkeit des Durchsuchungsbeschlusses des Amtsgerichts X. vom 13. Mai 2015 fest (AZ: XXX.).
Am 1. September 2016 erhob die Staatsanwaltschaft X. sodann gegen den Kläger und die Mitbeschuldigten Anklage wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung, die dem Kläger am 15. September 2016 zugestellt wurde. In der Folgezeit begehrten sowohl die Verteidiger der Angeschuldigten als auch die zwischenzeitlich beauftragte Bevollmächtigte einer der Geschädigten Akteneinsicht. Seitens der Verteidiger wurde darüber hinaus deren Beiordnung als notwendige Verteidiger gemäß § 140 StPO beantragt. Der Beiordnungsantrag des klägerischen Verteidigers datiert vom 19. September 2016. Am 29. November 2016 bat der Verteidiger sodann, über den Beiordnungsantrag zu entscheiden und begründete diesen mit weiterem Schriftsatz vom 18. Januar 2017. Am 19. April 2017 erhob der Verteidiger des Klägers schließlich Beschwerde wegen der unterbliebenen Entscheidung über seinen Beiordnungsantrag. Die Beiordnung erfolgte sodann mit Beschluss des Amtsgerichts Y. vom 21. April 2017 (AZ: XXX.). Eine Entscheidung über die Beiordnungsanträge der Verteidiger der weiteren Beschuldigten erfolgte zunächst nicht, obwohl auch diese im August, Oktober und November wiederholt an die noch ausstehende Entscheidung erinnert hatten.
Am 27. Februar 2018 vermerkte die zuständige Richterin des Amtsgerichts Y., dass das Verfahren aufgrund eines Umfangsverfahrens nicht gefördert werden könne, da das dortige Urteil abgesetzt werden müsse. Terminierungen seien daher „nur in Eil-Verfahren wie z. B. Haft- oder Führerscheinsachen zeitlich möglich“. Sie habe deswegen auch wegen eines weiteren anstehenden Umfangsverfahrens am 8. September 2017 förmlich Überlastung angezeigt. In der Folgezeit erkrankte die zuständige Richterin, was ihre Vertreterin mit einem an die Verteidiger gerichteten Schreiben vom 5. April 2018 mitteilte unter Hinweis darauf, dass auch über die offenen Anträge derzeit nicht entschieden werde und gebeten werde, „noch weiter zuzuwarten und einstweilen von weiteren Anfragen zum Stand der Sache abzusehen“.
Mit Schreiben vom 6. April 2018 regte der Verteidiger des Klägers eine Verfahrenseinstellung nach § 153 Abs. 2 StPO an. Diese wurde ohne weitere gerichtliche Veranlassung zu den Akten genommen.
Am 25. September 2018 beantragte die Rechtsanwältin einer der Geschädigten die Durchführung eines Adhäsionsverfahrens; dieser Antrag wurde den Angeschuldigten bzw. ihren Verteidigern – jedenfalls zunächst – nicht zugestellt.
Am 18. Februar 2019 erhob der Verteidiger des Klägers Verzögerungsrüge gemäß § 198 GVG und widerrief die mit dem Schreiben vom 6. April 2018 erteilte Zustimmung zu einer Verfahrensweise nach § 153 Abs. 2 StPO.11
Mit Verfügung vom 19. Juli 2019 vermerkte der zwischenzeitlich neue Dezernent der Abteilung … beim Amtsgericht Y., dass ihm die Akten als nunmehr zuständigem Dezernenten mit diversen Eingängen erstmals zur Bearbeitung vorgelegt worden seien. Da die Tatvorwürfe mehr als vier Jahre zurücklägen, sei von einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung auszugehen, welche auch im Rahmen einer etwaigen Strafzumessung zu berücksichtigen sei. Zudem vermerkte der Richter, dass nach dem Akteninhalt „zudem eine täterschaftliche Beteiligung des Angeschuldigten zu 2. jedenfalls zweifelhaft“ sei. Bei dem Angeschuldigten zu 2. handelte es sich um den Kläger dieses Verfahrens. Und weiter: „Allein der Umstand, dass sich dieser in der Wohnungstür befunden haben soll, dürfte zur Erfüllung des Tatbestandes nicht ausreichend sein“.
Mit Verfügung vom 22. August 2019 stimmte die Staatsanwaltschaft X. hinsichtlich des Klägers einer Verfahrenseinstellung nach § 153 Abs. 2 StPO zu. Zuvor hatte sie anlässlich eines Telefonates mit der Rechtsanwältin einer der Geschädigten in Erfahrung gebracht, dass „es für beide Geschädigte sehr belastend wäre, vor Gericht auszusagen und dadurch den Überfall noch einmal zu durchleben“. Demgegenüber teilte der Verteidiger des Klägers dem Amtsgericht Y. mit Schreiben vom 16. September 2019 mit, dass dieser keine Zustimmung mehr für eine Verfahrensweise nach § 153 Abs. 2 StPO erteile.
Mit Beschluss vom 17. Oktober 2019 eröffnete das Amtsgericht Y. das Hauptverfahren und ließ die Anklage hinsichtlich aller Angeschuldigter zu. Hauptverhandlungstermin wurde auf den 18. Februar 2020 festgesetzt, wobei das Gericht am Tag der Eröffnung ausdrücklich vermerkte, dass aufgrund der notwendigen Terminabstimmung mit den Verteidigern ein früherer Termin nicht möglich gewesen sei.
In der Hauptverhandlung am 18. Februar 2020 vor dem Amtsgericht Y. ließen sich die Angeklagten ausweislich des Sitzungsprotokolls nicht zur Sache ein. Nachdem eine der Geschädigten des Verfahrens zunächst zeugenschaftlich vernommen worden war, wurden sowohl deren Vernehmung als auch die Hauptverhandlung unterbrochen. Nach Wiederaufruf wurde das Verfahren hinsichtlich des Klägers mit seiner Zustimmung sowie der Zustimmung seines Verteidigers nach § 153 Abs. 2 StPO eingestellt. Hinsichtlich der beiden anderen Angeklagten erfolgte eine zunächst vorläufige und später auch endgültige Einstellung gemäß § 153 a Abs. 2 StPO.
Der Kläger ist der Auffassung, dass schon das vergleichsweise einfache und nicht etwa umfangreiche oder komplizierte Ermittlungsverfahren mit einem Jahr und vier Monaten bereits ungewöhnlich lang gewesen sei, wobei er allerdings berücksichtigt, dass die Bearbeitung der durch den Kläger und anderer Beschuldigter eingelegten Beschwerden zur zeitlichen Verlängerung des Ermittlungsverfahrens geführt habe.
Nach Zustellung der Anklage sei das Verfahren dann jedoch nicht mehr angemessen gefördert worden, wobei ihm selbst nichts anzulasten sei. Es läge daher ein Zeitraum von über drei Jahren und einem Monat ohne nennenswerte Verfahrensförderung vor. Die Verfahrensdauer mit insgesamt vier Jahren und neun Monaten sei angesichts des vergleichsweise geringen Umfangs und der einfachen Beschaffenheit unangemessen.
Die Verfahrensdauer sei nicht Grund der Einstellung gewesen. Vielmehr sei zwischen den Verfahrensbeteiligten erörtert worden, dass er nach Aktenlage freizusprechen gewesen sei. Er selbst habe mit seiner Zustimmung nur erreichen wollen, dass das Verfahren hinsichtlich seiner mitangeklagten Ehefrau nach § 153a Abs. 2 StPO eingestellt werde.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an ihn eine Entschädigung in Höhe von 3.600,00 € nebst 5 %-Punkten Zinsen über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte räumt zwar ein, dass das Verfahren nach Erhebung der öffentlichen Klage vor dem Amtsgericht Y. unangemessen lange gedauert habe. Allerdings sei dies bereits gemäß § 199 Abs. 3 Satz 1 GVG durch das Strafgericht zugunsten des Klägers berücksichtigt worden. Dies stelle eine ausreichende Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG dar.
Der Beklagte ist zunächst der Auffassung, es läge eine maximale Überlänge des Verfahrens von nur 23 Monaten vor. Das Ermittlungsverfahren selbst sei aufgrund der Beschwerden und der rechtlichen Schwierigkeiten des Verfahrens zeitlich nicht zu beanstanden. Nach Anklageerhebung sei es zunächst bis Februar 2017 zu Akteneinsichtsgesuchen und Anträgen der Verfahrensbeteiligten gekommen, weshalb eine Verfahrensverzögerung frühestens ab März 2017 angenommen werden könne. Auch in der Folgezeit sei das Gericht nicht gänzlich untätig geblieben, da es im April und Juni 2017 zu Beiordnungen der Verteidiger gekommen sei. Ab dem 19. Juli 2019 habe das Gericht das Verfahren kontinuierlich weiter gefördert. Dass die Hauptverhandlung tatsächlich erst im Februar 2020 habe stattfinden können, habe ausschließlich auf Schwierigkeiten bei der Terminierung seitens der beteiligten Rechtsanwälte beruht.
Der Beklagte wirft dem Kläger vor, die Verzögerungsrüge bewusst spät eingelegt zu haben, nicht etwa, weil er zunächst Geduld gehabt habe, sondern weil er die Verzögerung letztlich hingenommen habe, um sodann eine Entschädigung einzufordern. Aus dem Verlauf des Verfahrens nach Erhebung der Verzögerungsrüge könne man auch erkennen, dass das Verfahren anschließend auch gefördert worden sei, was letztendlich Ziel einer solchen Rüge sei.
Insbesondere aber habe das Gericht bei der Einstellung nach § 153 Abs. 2 StPO die lange Verfahrensdauer bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt. Es habe daher eine Wiedergutmachung auf andere Weise i. S. v. § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG stattgefunden, aufgrund dieser Kompensation sei der Entschädigungsanspruch des Klägers ausgeschlossen. Daher sei auch kein Raum für eine gesonderte Feststellung der Verzögerung durch das Entschädigungsgericht. Zwar sei die Berücksichtigung der unangemessen langen Verfahrensdauer bei der Entscheidung des Amtsgerichts Y. vom 18. Februar 2020 nicht ausdrücklich schriftlich festgehalten worden, dies sei aber auch nicht erforderlich. Dass das Gericht die erhebliche Dauer des Strafverfahrens zugunsten des Klägers berücksichtigt habe, ergebe sich bereits aus der Verfügung des Gerichts vom 19. Juli 2019, mit welcher das Gericht wegen der langen Verfahrensdauer die Einstellung des Verfahrens nach § 153 Abs. 2 StPO angeregt hatte. Darüber hinaus habe die erkennende Richterin in ihrer – vom Beklagten im anhängigen Entschädigungsverfahren eingeholten – „Dienstlichen Stellungnahme“ vom 16. April 2020 bestätigt, dass sie bei der Einstellungsentscheidung die lange Verfahrensdauer berücksichtigt habe und das Verfahren deshalb habe einstellen wollen. Mit Blick auf den schweren Tatvorwurf habe sie eine Einstellung nur aufgrund der erheblichen zeitlichen Verzögerungen des Strafverfahrens in Erwägung gezogen. Dieses sei mit allen Verfahrensbeteiligten auch in der mündlichen Verhandlung erörtert worden.
Der Senat hat die Akte XXXX StA X beigezogen und den Kläger persönlich angehört. Auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 21. August 2020 wird ebenso wie auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig und begründet.
Dem Kläger steht ein Entschädigungsanspruch aus § 198 Abs. 1 und 2 GVG dem Grunde nach und auch in der geltend gemachten Höhe zu. Die materiellen Entschädigungsvoraussetzungen sind erfüllt (hierzu unter 1). Auch war das gegen ihn gerichtete Strafverfahren der Staatsanwaltschaft X – XXX – unangemessen lang und hat den Kläger in seinem Recht auf eine effektive und der Unschuldsvermutung gerecht werdende Verfahrensgestaltung verletzt (hierzu unter 2.). Sein Anspruch ist auch nicht durch eine Wiedergutmachung auf andere Weise aufgrund der Einstellung des Verfahrens nach § 153 Abs. 2 StPO entfallen, weil damit eine Kompensation nach § 199 Abs. 3 GVG nicht erfolgt ist (hierzu unter 3.).
1.
Die materiellen Entschädigungsvoraussetzungen nach § 198 Abs. 5 GVG der erhobenen Verzögerungsrüge (§ 198 Abs. 3 Satz 1 GVG) und der Klageerhebung frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge und spätestens sechs Monate nach Erledigung des betroffenen Verfahrens sind gewahrt. Die Einstellung des Ermittlungsverfahrens erfolgte am 18. Februar 2020, die Entschädigungsklage wurde am 18. März 2020 anhängig gemacht. Die Zustellung an den Beklagten am 27. März 2020 erfolgte „demnächst“ im Sinne des § 167 ZPO.
Die Entschädigungsklage hat der Kläger auch nicht taktisch spät eingelegt, um eine hohe Entschädigung zu erzielen, was der Beklagte geltend machen möchte. Er hat nämlich über seinen Verteidiger wiederholt Anträge gestellt, zunächst eine Verfahrenseinstellung angeregt und auch sonst schriftsätzlich zum Ausdruck gebracht, dass er einen Fortgang des Verfahrens anstrebt. Der Kläger hat also keineswegs stillschweigend dessen Fortdauer abgewartet.
2.
Nach § 198 Abs. 1 GVG ist ein Verfahrensbeteiligter zu entschädigen, wenn er infolge einer unangemessenen Dauer eines Gerichtsverfahrens einen Nachteil erleidet. Dabei wird ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat, § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG.
Der nationale Gesetzgeber hat bei der Umsetzung des Entschädigungsanspruchs bei einer Verletzung des Anspruchs auf Rechtsschutz in angemessener Zeit aus Art. 19 Abs. 4, 20 Abs. 3 GG, 6 Abs. 1 EMRK auf die Normierung verbindlicher Fristen verzichtet und stattdessen in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG eine normative Wertung vorgenommen, nach der die Angemessenheit der Verfahrensdauer sich „nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter“ richtet.
a)
Nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung und auch durch rechtskräftige Senatsurteile vom 26. Juni 2020 (17 EK 2/19 und 17 EK 3/19, bei juris) so entschieden, ist die Dauer eines justiziellen Verfahrens dann als unangemessen lang anzusehen, wenn nach den Umständen des Einzelfalls die Verfahrensgestaltung und die hierdurch bewirkte Verfahrensdauer das Ausmaß eines den Gerichten zuzubilligenden Gestaltungsspielraumes derart überschreiten, dass die Verfahrensgestaltung auch bei voller Würdigung der Belange einer funktionstüchtigen Rechtspflege nicht mehr verständlich ist (BGH, Urteil vom 13. März 2014 – III ZR 91/13 -, NJW 2014, 1816 ff., bei juris, Rn. 32, 34; BGH, Urteil vom 23. Januar 2014 – III ZR 37/13 -, WM 2014, 528 ff., bei juris, Rn. 36 ff.; BGH, Urteil vom 5. Dezember 2013 – III ZR 73/13 -, NJW 2014, 789 ff., bei juris, Rn. 41 ff.).
Daher verbietet sich die Ausrichtung der Betrachtung an statistischen Durchschnittswerten (BGH a.a.O., ferner SchlHOLG, Urteil vom 8. April 2013 – 18 SchH 3/13 – SchlHA 2013, 248 ff., bei juris, Rn. 14). Vielmehr sind – mögen auch Auffälligkeiten im Verhältnis zum Durchschnitt vergleichbarer Verfahren erste Anhaltspunkte liefern – stets die einzelnen Verfahren gesondert zu untersuchen (OLG Frankfurt, Urteil vom 28. März 2013 – 16 EntV 5/12, bei Juris), wobei allerdings wiederum in Rechnung zu stellen ist, dass im Gesamtverfahren Phasen von Verzögerung durch Phasen beschleunigter Verfahrensgestaltung kompensiert werden können (BGH, Urteil vom 14. November 2013 – III ZR 376/12 -, NJW 2014, 220 ff., bei juris, Rn. 30; BGH, Urteil vom 23. Januar 2014 – III ZR 37/13 -, WM 2014, 528 ff., bei juris, Rn. 37 f.). Auch kommt es bei der inhaltlichen Beurteilung einzelner Verfahrensschritte ähnlich der Situation im Amtshaftungsprozess nach Maßgabe des § 839 Abs. 2 BGB nicht auf die Richtigkeit, sondern auf die bloße Vertretbarkeit des Handelns an (BGH, Urteil vom 5. Dezember 2013 – III ZR 73/13 -, NJW 2014, 789 ff., bei juris, Rn. 45 f.).
Zudem hat das Entschädigungsgericht bei der Bewertung eine ex-ante-Betrachtung vorzunehmen, die sich nicht an der inhaltlichen Ausgestaltung des Verfahrens, sondern allein an dessen objektivem Verlauf orientiert, denn es kommt nicht darauf an, ob die Verzögerung auf ein pflichtwidriges Verhalten zurückzuführen oder ob der verfahrensführenden Behörde ein anderweitiger Vorwurf zu machen ist. Der Entschädigungsanspruch aus § 198 GVG ist ein staatshaftungsrechtlicher, verschuldensunabhängiger Anspruch, der es dem Anspruchsgegner auch verwehrt, sich auf systembedingte Umstände – wie zum Beispiel Personalknappheit und Arbeitsdichte – zu berufen (Graf in BeckOK § 198 GVG Rn.16; Krauß in Löwe/Rosenberg, 26. Aufl., Rn. 32 Nachtr § 198 GVG).
b)
Bei Anwendung dieses Maßstabes erweist sich das Verfahren XXX StA X teilweise schon im Ermittlungsverfahren, insbesondere aber im Zwischenverfahren zeitlich als unangemessen lang. Dies verletzt den Kläger in seinem Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit.
Das streitgegenständliche Strafverfahren richtete sich zwar gegen drei jeweils verteidigte Beschuldigte, dennoch wies es bei einem sehr überschaubaren Tatvorwurf sowohl in tatsächlicher als auch rechtlicher Hinsicht keinerlei Schwierigkeiten auf. Die polizeilichen Ermittlungen waren daher in der Sache auch spätestens mit der Vernehmung des letzten Zeugen bereits im Juni 2015 abgeschlossen. Zu einem förmlichen Abschluss der Ermittlungen kam es nur deshalb nicht, weil gegen die Durchsuchungsanordnung des Amtsgerichts X. Beschwerden eingelegt worden waren.
Zwar ist es aus Sicht der Staatsanwaltschaft zunächst nicht grundsätzlich zu beanstanden, bei einer Beschwerde gegen eine erfolgte Durchsuchung eine etwaige Anklageerhebung zurückzustellen. Vorliegend war allerdings die Durchsuchung ergebnislos geblieben, weshalb hieraus keine Beweismittel gewonnen worden waren, deren Verwertbarkeit ggf. zu klären gewesen wäre. Die Ermittlungen hätten daher – ggf. nach Anlegen eines Aktendoppels für das Beschwerdeverfahren – zum Abschluss gebracht werden können.
Dies war jedenfalls vorliegend geboten, weil zwischen der Einlegung der Beschwerde des Klägers und der Entscheidung hierüber exakt ein Jahr lag, worin nach Auffassung des Senats bereits eine erste, objektiv nicht mehr vertretbare und damit rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung aufgrund der Untätigkeit der Beschwerdekammer des Landgerichts X liegt. Verfahrensbedingte Gründe für die über Monate unterbliebene Beschwerdeentscheidung sind nicht ersichtlich, denn der entscheidungserhebliche Sachverhalt war denkbar einfach gelagert, ebenso wies die diesbezügliche Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Durchsuchungsanordnung keine Schwierigkeit auf. Entsprechend beschränken sich die rechtlichen Ausführungen der Kammer dazu auch auf eine halbe Seite. Eine Überlastung der – zugleich auch als große Strafkammer tätigen – Beschwerdekammer vermag zwar kurzfristig eine Zurückstellung von Beschwerdesachen erforderlich machen, allerdings nicht in der Form, dass diese über Monate gänzlich aus dem Blick geraten. Dies gilt umso mehr, als es sich bei der angefochtenen Entscheidung um eine grundrechtsrelevante Durchsuchungsanordnung gehandelt hatte und der Kläger aufgrund der geltenden Unschuldsvermutung eine zeitlich absehbare Feststellung erwarten durfte.
Danach ist der Senat – selbst bei Anlegung eines insoweit großzügigen Maßstabes – der Auffassung, dass das Beschwerdeverfahren spätestens nach drei Monaten hätte beendet sein können und auch müssen, anderenfalls aber die Staatsanwaltschaft angesichts der im Ergebnis für den Tatnachweis unergiebigen Durchsuchung gehalten gewesen wäre, die Ermittlungen abzuschließen. Das Verfahren ist daher bereits bis zur Anklageerhebung neun Monate lang verzögert worden.
Auch nach Erhebung der Anklage und Eingang der Akten bei Gericht im September 2016 hat das Verfahren bis zur Eröffnungsentscheidung im September 2019 mit drei Jahren unangemessen lange gedauert. Dies liegt nach Auffassung des Senats auf der Hand, denn das Gericht hat in dieser Zeit nahezu keinerlei verfahrensfördernde Maßnahmen unternommen, vielfach sogar typische Entscheidungen im Zwischenverfahren – so maßgeblich Entscheidungen über die Beiordnung notwendiger Verteidiger, Entscheidungen über Akteneinsichtsgesuche und die Zustellung eines Adhäsionsantrages – unterlassen bzw. diese erst nach wiederholten Erinnerungen bis hin zu einer Beschwerde getroffen; mag auch insoweit phasenweise ein sachlicher Grund darin gelegen haben, dass die zunächst zuständige Richterin mit (einem) Umfangsverfahren belastet war. Allerdings ist insoweit festzustellen, dass sie aufgrund ihrer Überlastungsanzeige vom 8. September 2017 schon mit Wirkung vom 4. Oktober 2017 von Neueingängen im Ds-, Cs- und auch Ls-Register freigestellt worden war, um ihr eine „Abarbeitung von Rückständen“ zu ermöglichen. Diese Maßnahme lief auch noch im Februar 2018, ohne dass das Verfahren auf den Weg gebracht worden ist. Ein Organisationsverschulden seitens der Gerichtsverwaltung war damit zwar zunächst aufgrund der vorgenommenen Entlastung nicht anzunehmen. Etwas Anderes galt dann jedoch, nachdem die Richterin in der Folgezeit erkrankt war und die Akte in der Zeit von April 2018 bis Juli 2019 schlicht liegen geblieben war. Erst nach Dezernatsübernahme durch einen weiteren Richter des Amtsgerichts Y. und auch nachdem der Kläger seine Verzögerungsrüge angebracht hatte, ist das Verfahren sodann in nicht zu beanstandender Weise zeitlich zügig und abschlussorientiert bearbeitet worden. Dabei ist mit Verfügung vom 19. Juli 2019 erst einmal organisatorische Struktur in das Verfahren gebracht und über Anträge entschieden worden. Wenig später erfolgte sodann am 17. Oktober 2019 die Eröffnungsentscheidung und Terminierung.
Damit ist es nach Auffassung des Senats über einen Zeitraum von zwei Jahren und sechs Monaten in der Zeit von Anfang 2017 bis Mitte Juli 2019 im Zwischenverfahren zu einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung gekommen.
3.
Der Beklagte kann sich gegenüber dem Entschädigungsanspruch des Klägers auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass dieser aufgrund einer auf andere Weise erfolgten Wiedergutmachung nach § 199 Abs. 3 GVG entfallen ist.
Gemäß § 198 Abs. 2 Satz 1 und 2 GVG kann für einen Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, eine Entschädigung nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalles eine Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend ist. Nach § 198 Abs. 4 GVG ist eine derartige Wiedergutmachung insbesondere durch die Feststellung des Entschädigungsgerichts möglich, dass die Verfahrensdauer unangemessen lang war. Dies gilt gemäß § 199 Abs. 1 GVG grundsätzlich auch in Strafverfahren einschließlich des Ermittlungsverfahrens. Eine Modifikation erfolgt allerdings insoweit, als nach § 199 Abs. 3 Satz 1 GVG eine – die Anwendung von § 198 Abs. 4 GVG ausschließende – ausreichende Wiedergutmachung in anderer Weise bereits dann erfolgt, wenn ein Strafgericht oder die Staatsanwaltschaft die unangemessene Dauer des Verfahrens „zugunsten des Beschuldigten berücksichtigt“ hat. Insoweit kommt eine Entschädigung wegen einer unangemessenen Verfahrensdauer dann nicht mehr in Betracht.
a)
Eine Kompensation in diesem Sinne ist unter Bezugnahme auf die Begründung des Regierungsentwurfs eines „Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren“ (BT-Drs. 17/3802, S. 24 – Einzelbegründung zu § 199 GVG-E) etwa dann anzunehmen, wenn im Rahmen einer Verurteilung die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung im Rechtsfolgenausspruch nach dem „Strafvollstreckungsmodell“ (BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 – GsSt 1/07 -, BGHSt 52, 124 f.) Berücksichtigung gefunden hat, was dadurch erfolgt, dass ein zeitlich konkret bemessener Teil der verhängten Strafe als bereits vollstreckt gilt. Dadurch würden – so die Entwurfsbegründung (a.a.O.) – im Verhältnis zur früheren Berücksichtigung der Verzögerung im Rahmen der Strafzumessung auch nicht mehr Fragen des Unrechts und der Schuld mit den Aspekten der Kompensation staatlich bedingter Verfahrensverzögerung vermengt. Sei eine Kompensation im Kontext der Entscheidung nicht möglich – etwa im Falle des Freispruchs oder bei einer aus erzieherischen Gründen nicht vollstreckten Jugendstrafe -, sei Raum für eine gesonderte Kompensation (Entwurfsbegründung a.a.O.). Vergleichbar liege es, wenn eine Einstellung „nicht aufgrund einer eingetretenen Verfahrensverzögerung, sondern schon aus anderen Gründen“ erfolgt sei (Entwurfsbegründung a.a.O.).
Was daraus folgt, wenn die Gründe einer – in aller Regel nicht ausdrücklich begründeten – Einstellung unklar oder vielschichtig sind, wird durchaus unterschiedlich beurteilt. Während die lediglich allgemeine Berücksichtigung der Verfahrensdauer als Strafmilderungsgrund bei einer Opportunitätseinstellung zum Teil als unzureichend angesehen wird (Kissel/Mayr, 9. Aufl. (2018), Rn. 32 zu § 199 GVG), reicht es nach anderer Auffassung aus, dass die Entscheidung zumindest auch auf der langen Verfahrensdauer beruht (Krauß in Löwe/Rosenberg, a.a.O., Rn. 14 f zu Nachtr. § 199 GVG; Kreicker in MüKo-StPO, Rn. 8 zu § 199 GVG). In diesem Fall wird allerdings eine hinreichende Bestimmtheit und Erkennbarkeit dieser Intention gefordert, diese müsse sich zweifelsfrei ergeben, Zweifel gingen zu Lasten des Staates (Krauß und Kreicker a.a.O.). Andere lassen es hingegen ausreichen, wenn die unangemessene Dauer „irgendwie“ berücksichtigt worden ist (Zimmermann in MüKo-ZPO, 5. Aufl. (2017), Rn. 3 zu § 199 GVG). Ähnlich hat das Oberlandesgericht Frankfurt a.M. unter Bezugnahme auf die erwähnte Formulierung der Entwurfsbegründung entschieden (OLG Frankfurt a.M., Urteil vom 7. November 2012 – 4 EntV 4/12 -, NJW 2013, 480 ff., bei juris, Rn. 40), dass von einer Berücksichtigung der Verfahrensdauer nur dann nicht gesprochen werden könne, wenn die Einstellung des Verfahrens allein aus anderen Gründen erfolgt ist. Die Berücksichtigung einer unangemessen langen Verfahrensdauer könne zudem konkludent erfolgen, was vom Entschädigungsgericht allerdings nur anhand hinreichend beweiskräftiger Indizien festgestellt werden könne (a.a.O., Rn. 42).
Nach Auffassung des Senats – so entschieden im Fall Marit Hansen (Urteil vom 26. Juni 2020, 17 EK 2/19) – kann die Frage einer hinreichenden „Berücksichtigung“ der unangemessenen Verfahrensdauer nicht schon generell-abstrakt beantwortet werden, sondern nur im Kontext des Einzelfalls. Hierbei ist schon aus Gründen der Zielsetzung der §§ 198 ff. GVG und der Gleichbehandlung der Fälle einer Einstellung des Verfahrens mit den Fällen einer Verurteilung, bei der die „Vollstreckungslösung“ klare Maßstäbe bietet, zum einen eine hinreichende Identifizierbarkeit der „Berücksichtigung“ zu fordern und zum anderen eine inhaltliche Mindestqualität dieser Berücksichtigung. Bei deren Überprüfung ist das Entschädigungsgericht nur bei gerichtlicher Vorentscheidung an die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer gebunden (§ 199 Abs. 3 Satz 2 GVG), weshalb in anderen Fällen eine eigenständige Bewertung zu erfolgen hat. Damit wird deutlich, dass eine lediglich „irgendwie“ erfolgende Berücksichtigung weder greifbar ist, noch ausreichend sein kann.
Mag auch konkludentes Handeln denkbar sein, so müssen doch hinreichende Anknüpfungstatsachen den Schluss auf eine spezifische Motivationslage für die erfolgte Einstellung zulassen, deren Grundlage sich gerade in der als unangemessen lang bewerteten Verfahrensdauer findet. Auf eine Motivationslage vor allem, die sich – wie sich aus der Rechtsprechung zu § 198 Abs. 4 GVG ergibt – erkennbar an den Umständen des Einzelfalles unter Abwägung aller Belange ausrichtet (BGH, Urteil vom 23. Januar 2014 – III ZR 37/13 -, WM 2914, 528 ff., bei juris, Rn. 62) und außerdem – dies folgt unmittelbar aus § 199 Abs. 3 Satz 1 GVG – „zugunsten des Beschuldigten“ erfolgt. Dies bedeutet nicht, dass die unangemessene Verfahrensdauer der alleinige oder der bedeutsamste Grund für die Einstellung gewesen sein muss. Wohl aber setzt die Zielsetzung des § 199 Abs. 3 Satz 1 GVG voraus, dass die unangemessene Verfahrensdauer ein prägender Grund für die Einstellung gewesen sein muss und diese für den Beschuldigten sich auch vorteilhaft, nämlich „zugunsten“, ausgewirkt hat. Eine erkenntnisleitende Kontrollfrage kann sein, ob es ohne die unangemessene Verfahrensdauer überhaupt zu einer Einstellung gekommen wäre.
b)
Unter Zugrundelegung dieser Kriterien vermochte sich der Senat nicht davon zu überzeugen, dass die Verfahrenseinstellung hinsichtlich des Klägers „identifizierbar“ und „prägend“ auf der überlangen Verfahrensdauer beruhte.
Dies folgt zum einen daraus, dass schon beachtliche andere Gründe eine Verfahrenseinstellung nach § 153 Abs. 2 StPO nahegelegt hatten, ohne dass diese noch maßgeblich aus Gründen der Kompensation geboten gewesen wäre. Zum anderen vermochte der Senat als Entschädigungsgericht auch weder hinreichend konkrete „Aktenspuren“ noch andere tatsächliche Anhaltspunkte festzustellen, aus denen zu folgern gewesen wäre, dass die Verfahrensbeteiligten bei der Einstellungsentscheidung übereinstimmend auch eine Wiedergutmachung auf andere Weise im Sinne von § 199 Abs. 3 GVG im Auge hatten.
Im Einzelnen:
Für eine Verfahrenseinstellung – dies ergibt sich zum Teil schon aus den gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfügungen vom 19. Juli bzw. 22. August 2019 – sprachen neben der bisherigen Unbescholtenheit des zur Tatzeit über 40 Jahre alten Klägers vor allem sein allenfalls geringer Tatbeitrag, dessen strafrechtliche Relevanz zudem – jedenfalls in der Form der mittäterschaftlichen Begehungsweise – zweifelhaft war, und der Umstand, dass Tathintergrund persönliche Auseinandersetzungen waren, an denen der Kläger gar nicht beteiligt war. Zudem lag die angeklagte Tat – und hierbei handelt es sich u.a. auch um einen bei der Einstellungsentscheidung beachtlichen prognostischen Strafmilderungsgrund – zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung nahezu vier Jahre zurück. Schon hieraus ergaben sich mithin hinreichende Gesichtspunkte für eine Einstellung nach § 153 Abs. 2 StPO, weil „die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre“ und infolge des Zeitablaufs „kein öffentliches Interesse an der Verfolgung“ mehr bestand. Auch der Beklagte trägt insoweit in keiner Weise vor, dass diese – eine Einstellung aus Opportunitätsgründen tragenden – Gesichtspunkte in der Hauptverhandlung keine Berücksichtigung gefunden haben. Ob eine Berücksichtigung tatsächlich so stattgefunden hat, vermag der Senat zwar nicht zu erkennen, er kann es aber auch nicht ausschließen, denn bei verständiger Würdigung des Akteninhalts sprechen überwiegende Gründe dafür.
Auch der persönlich gehörte Kläger hat die ihn betreffende Einstellung des Verfahrens nicht so verstanden, dass ihm damit vor allem aufgrund der – nicht zuletzt aufgrund der erfolgten Durchsuchung – als belastend empfundenen langen Verfahrensdauer eine Wiedergutmachung zukommen sollte. Die Hauptverhandlung war nach seiner nachvollziehbaren Darstellung von vielen Gesprächsunterbrechungen ohne Beteiligung der Angeklagten gekennzeichnet, deren Inhalt ihm nicht umfassend transparent geworden ist. Für ihn sei es im Ergebnis darum gegangen, dass mit seiner ihn betreffenden Zustimmung auch eine Einstellung hinsichtlich seiner mitangeklagten Ehefrau möglich wurde. Der Senat hat danach den deutlichen Eindruck gewonnen, dass es in der Hauptverhandlung überwiegend um eine umfassende Erledigung des Verfahrens ging, bei der die Mitangeklagten aufgrund ihrer wesentlich erheblicheren Tatbeiträge im Fokus standen, während es bei dem Kläger im Ergebnis eigentlich nur darum ging, das Verfahren gegen ihn prozessökonomisch ebenfalls zu beenden.
Hierzu – ohne dass hierin eine Rekonstruktion der Hauptverhandlung vom 18. Februar 2020 zu sehen wäre – passen auch die fragmentarischen Angaben des Klägervertreters in der mündlichen Verhandlung, der als notwendiger Verteidiger des Klägers an der Hauptverhandlung mitgewirkt hatte. Dieser hat nämlich erklärt, er selbst habe die von ihm erhobene Verzögerungsrüge ins Gespräch gebracht, weil er für seinen Mandanten ein Entschädigungsverfahren beabsichtigt habe, weshalb es ihm zu dessen Vorbereitung eher um einen möglichen Freispruch, nicht aber um eine Einstellung gegangen sei. Gründe, seine Angaben in Zweifel zu ziehen, hatte der Senat nicht, denn diese strategische Erwägung ist nicht nur subjektiv nachvollziehbar, sondern nach dem weiteren Verfahrensgang auch objektiv plausibel. Die Verfahrenseinstellung hinsichtlich der beiden anderen Angeklagten beinhaltete nämlich – unbeschadet der verfahrensrechtlichen Zulässigkeit – ausweislich des Sitzungsprotokolls einen Verzicht auf bzw. die Rücknahme einer bereits erhobenen Verzögerungsrüge. Diesen beiden Angeklagten war daher im Gegensatz zum Kläger sehr wohl klar, dass diese Einstellung auch „im Gegenzug“ zu ihrer Rechtsverletzung infolge der möglicherweise unangemessen langen Verfahrensdauer erfolgte. Auch insoweit hat nämlich der Klägervertreter nachvollziehbar erläutert, es sei hinsichtlich dieser Angeklagten darum gegangen, dass ihre jeweils zu zahlende Geldauflage im Rahmen der Einstellung nach § 153a Abs. 2 StPO nicht durch eine Entschädigungsklage nachträglich „wieder eingeklagt werden kann“.
Entgegen der Auffassung des Beklagten kommt es auch sehr wohl darauf an, dass die beabsichtigte Kompensation einen Geschädigten auch tatsächlich wahrnehmbar erreicht, mithin für ihn identifizierbar ist, denn ansonsten liefe eine Wiedergutmachung ins Leere oder bliebe ungewiss. Dies ergibt auch ein unmittelbarer Vergleich zur „Vollstreckungslösung“ im Rahmen einer Verurteilung, bei der die Entschädigung nämlich zum einen im Tenor des Urteils, mithin einer öffentlichen Urkunde gemäß §§ 415, 417 ZPO, ausdrücklich ausgesprochen und in den Urteilsgründen auch begründet wird.
Schon angesichts dieser Umstände ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass die Einstellungsentscheidungen hinsichtlich des Klägers und der übrigen Angeklagten differenziert erfolgten – was sich nicht zuletzt auch in den unterschiedlichen Kostenentscheidungen zeigte, denn nur der Kläger wurde von seinen notwendigen Auslagen freigehalten – und die Verfahrensverzögerung bei ihm kein Umstand war, der sich im Sinne der Begriffsdefinition unter 3. a) identifizierbar und prägend ausgewirkt hat.
Etwas Anderes hinsichtlich der Einwendung des Beklagten ergibt sich schließlich auch nicht aus der dienstlichen Stellungnahme der Richterin B. vom 16. April 2020. Auch diese – erst nachträglich und im Zusammenhang mit dem streitgegenständlichen Verfahren – erstellte Stellungnahme ist nämlich nur fragmentarisch, differenziert zwischen den einzelnen Angeklagten nicht und gibt den dynamischen Ablauf der mehrfach unterbrochenen Hauptverhandlung nur sehr unvollkommen wieder. Selbst die Vorsitzende Richterin musste sich zunächst – und dies anhand „der von der leitenden Oberstaatsanwältin Frau C. angefertigten Verfahrenshistorie“ – eine „vergleichbare handschriftliche Übersicht“ erstellen, um sich „so den zeitlichen Ablauf“ zu vergegenwärtigen. Der Senat kann sich schon deshalb vom Ablauf, dem Inhalt und hinsichtlich der erklärten Motive und Absichten der Verfahrensbeteiligten beim Zustandekommen der Verfahrenseinstellung kein Bild machen. Soweit sich der Stellungnahme entnehmen lässt, die „Schwere der Tatvorwürfe“ sei ein Gesichtspunkt bei der Einstellung gewesen, bleibt angesichts des tatsächlich im Raum stehenden Tatvorwurfs offen, was nach Auffassung der Vorsitzenden hinsichtlich des Klägers die Schwere des Tatvorwurfs begründete. Jedenfalls aber haben auch die „durch das Verfahren verursachten psychischen Belastungen für die Zeugin D.“ eine bedeutsame Rolle für das erkennende Gericht gespielt. Die Rücksichtnahme auf Belange der anwesenden, teilweise bereits vernommenen Zeugin und Adhäsionsklägerin ist ein völlig anderer Gesichtspunkt im Rahmen der Einstellung, ohne dass sich erkennen lässt, welche Bedeutung diesem zugekommen ist. Welches Gewicht demgegenüber noch der Verfahrensdauer – und dies gerade im Falle des Klägers – zugekommen ist, ergibt sich aus der Stellungnahme nicht. Damit ermöglicht auch diese Stellungnahme nicht die Annahme einer aus dem Strafverfahren heraus identifizierbaren Berücksichtigung der Verfahrensdauer bei der Einstellungsentscheidung.
Schon aufgrund der vorliegenden Erkenntnisquellen ist damit eine Wiedergutmachung auf andere Weise nicht festzustellen. Der Senat sah auch keine Veranlassung, hierzu weitere Aufklärung zu betreiben.
Denn den auch beklagtenseits erfolgten Beweisantritten auf Vernehmung der Verfahrensbeteiligten in der Hauptverhandlung vom 18. Februar 2020 war schon deshalb nicht nachzugehen, weil es insoweit an jeglichem konkreten Beweisthema mangelt und daher eine Beweisaufnahme auf eine zivilprozessual unzulässige Ausforschung hinausgelaufen wäre. Weitere „Aktenspuren“, also aus den Akten ersichtliche Hinweise, etwa in Vermerken des Gerichts, Zuschriften der Staatsanwaltschaft, dem Hauptverhandlungsprotokoll oder aber dem Einstellungsbeschluss selbst, aus denen sich hätte entnehmen lassen, dass die Verfahrensbeendigung maßgeblich konsensual mit dem Ziel der Kompensation erfolgte, liegen aber nicht vor.
Der Kläger hat also einen Anspruch auf Entschädigung aufgrund einer unangemessen langen Dauer des Verfahrens jedenfalls in Höhe des von ihm begehrten Betrages von 3.600 €, der einer Entschädigung für 36 Monate entspricht. Gründe, von der gesetzlichen Entschädigungshöhe (vgl. § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG) aus Gründen der Billigkeit abzuweichen, lagen nach Auffassung des Senats nicht vor.
Abschließend merkt der Senat an:
Dieser Sachverhalt bietet schon in tatsächlicher Hinsicht keine genügende Veranlassung, die in der mündlichen Verhandlung auch erörterte Frage, ob und in welchem Umfang eine Dokumentation der Einstellungsgründe im Falle einer möglichen Kompensation geboten ist oder jedenfalls sein kann, abschließend und grundsätzlich zu klären. Allerdings mag dies aus Gründen der Nachvollziehbarkeit, Rechtssicherheit und der Effektivität des Rechtsschutzes bei überlangen Verfahrensdauern in anderen Fällen durchaus geboten sein, denn die nachträgliche Rekonstruktion des Entscheidungsprozesses bei Opportunitätseinstellungen – so sie überhaupt durch das Entschädigungsgericht zu erfolgen hätte und sich nicht aus dem Bezugsverfahren selbst ergeben muss – wird nicht immer möglich sein, auch wenn Zweifel nicht zulasten des Geschädigten, sondern zu Lasten des Verpflichteten gingen, weil es sich bei der Wiedergutmachung auf andere Weise um eine Einwendung des Schädigers handelt.
Schon der vorliegende Fall hat nicht zuletzt in der mündlichen Verhandlung eindrucksvoll gezeigt, dass Abläufe und Motivationen der Verfahrensbeteiligten in einem dynamischen Prozess, den eine Hauptverhandlung darstellt, durch diese nur schwer und unvollständig erinnert werden.
Insofern kann ein Blick auf andere Prozesssituationen, wie zum Beispiel die Verständigung nach § 257c StPO, eine Anregung dafür bieten, wie auch bei anderen prozessualen Gestaltungsmöglichkeiten verfahren werden könnte, nämlich etwa durch Protokollierung. Ebenso könnte man an eine – jedenfalls kurze – Begründung des Einstellungsbeschlusses denken, auch wenn es sich hierbei nicht um eine begründungspflichtige anfechtbare Entscheidung nach § 34 StPO handelt. Allerdings spricht eine fehlende Begründungspflicht auch nicht gegen die Möglichkeit der Begründung einer solchen Entscheidung, wenn sie denn später Grundlage für Einwendungen im Entschädigungsverfahren sein kann und damit nicht nur einfach verfahrensbeendend wirkt. Es dürfte auf der Hand liegen, dass je transparenter eine Opportunitätseinstellung dokumentiert wird, desto weniger das Vorliegen oder aber Fehlen einer Wiedergutmachung auf andere Weise im Entschädigungsverfahren zweifelhaft sein wird.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 708 Nr. 11, 711, 713 ZPO.
Ein Grund zur Zulassung der Revision gemäß §§ 201 Abs. 2 GVG, 543 Abs. 2 ZPO bestand deshalb nicht, weil es auf die mutmaßlich revisible Frage der notwendigen Dokumentation der Entscheidung über die rechtsstaatswidrige Verzögerung nicht mehr ankam.
Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Urteil vom 11.09.2020, Aktenzeichen: 17 EK 2/20