Auch nach Abgabe der Vollstreckung einer Jugendstrafe an die Staatsanwaltschaft nach § 85 Abs. 6 Satz 1 JGG hat die Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung des Restes der Jugendstrafe nach § 88 JGG und nicht nach § 57 StGB zu erfolgen.
Den vorstehenden Leitsatz hat das OLG Karlsruhe zu seinem Beschluss vom 12.10.2017 (2 Ws 231/17) aufgestellt.
Nach § 85 Abs. 6 JGG kann die Vollstreckung einer Jugendstrafe nach Vollendung des 24. Lebensjahres an die nach den allgemeinen Vorschriften zuständige Vollstreckungsbehörde abgegeben werden, wenn der Straf- oder Maßregelvollzug voraussichtlich noch länger dauern wird und die besonderen Grundgedanken des Jugendstrafrechts unter Berücksichtigung der Persönlichkeit des Verurteilten für die weiteren Entscheidungen nicht mehr maßgebend sind.
Der Senat stellt in seiner Entscheidung fest, dass jedoch auch in diesem Fall, die zu treffende Entscheidung über die Aussetzung der restlichen Jugendstrafe zur Bewährung unter Heranziehung von §§ 110 Abs. 1, 88 Abs. 1 JGG und nicht nach § 57 Abs. 1 StGB zu erfolgen hat.
Seine Entscheidung begründet der Senat maßgeblich wie folgt:
[…] 2. Die zu treffende Entscheidung über die Aussetzung der restlichen Jugendstrafe zur Bewährung hat – ungeachtet der erfolgten Abgabe nach § 85 Abs. 6 Satz 1 JGG – unter Heranziehung von §§ 110 Abs. 1, 88 Abs. 1 JGG und nicht nach § 57 Abs. 1 StGB zu erfolgen. Der Senat hält insoweit an seiner bisherigen Auffassung fest (Beschluss vom 11.03.2008 – 2 Ws 374/07, NStZ 2009, 46). Diese entspricht der überwiegenden Ansicht in Rechtsprechung und Literatur (ThürOLG, Beschluss vom 27.07.2016 – 1 Ws 307/16 -, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 05.02.2015 – III-2 Ws 33/15 -, juris; HansOLG Hamburg StraFo 2013, 349; OLG Stuttgart Die Justiz 2011, 106; OLG Dresden, Beschluss vom 17.06.2009 – 2 Ws 203/09 -, juris; OLG Bamberg, Beschluss vom 25.10.2005 – Ws 768/05 -, juris; BrandbgOLG, Beschluss vom 24.05.2005 – 2 Ws 57/05 -, juris; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 04.04.2003 – III-3 Ws 117/03 -, juris; OLG Frankfurt NStZ-RR 1999, 91; Eisenberg, JGG, 19. Aufl. 2017, § 85 Rn. 22; HK-JGG/Sonnen, 7. Aufl. 2015, § 85 Rn. 16; Brunner/Dölling, JGG, 12. Aufl. 2011, § 85 Rn. 14; Diemer/Schatz/Sonnen, KGG, 7. Aufl. 2015, § 85 Rn. 16; BeckOK Strafvollzug Bund/Heuchemer, 11. Edition Stand 01.02.2017, JGG § 85 Rn. 14; NK-JGG/Ostendorf/Rose, 10. Aufl. 2016, § 85 Rn. 8 und § 88 Rn. 1; Fischer, StGB, 64. Aufl. 2017, § 57 Rn. 2; undifferenziert: OLG Karlsruhe [3. Strafsenat] Die Justiz 2006, 372; aA: OLG Düsseldorf StraFo 2012, 470; OLG Nürnberg, Beschluss vom 17.11.2009 – 2 Ws 410/09 -, juris; OLG München StraFo 2009, 125; OLG Düsseldorf StV 1998, 348; LR-StPO/Graalmann-Scherer, 26. Aufl. 2010, § 454 Rn. 105). Die vom Senat vertretene Auffassung lässt sich insbesondere mit der gesetzgeberischen Entscheidung in Einklang bringen, dass im Falle der Abgabe der Vollstreckung einer Jugendstrafe an die Staatsanwaltschaft nach § 85 Abs. 6 Satz 2 JGG (nur) die Vorschriften der Strafprozessordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes über die Strafvollstreckung zur Anwendung kommen, nicht hingegen diejenigen (materiell-rechtlichen) des Strafgesetzbuches. Ferner lässt die Abgabe unberührt, dass es sich weiterhin um die Vollstreckung einer Jugendstrafe und nicht einer Freiheitsstrafe handelt.
Nachdem mindestens ein Drittel der Jugendstrafe vollstreckt ist, kann die Vollstreckung des Restes der verhängten Jugendstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden, wenn dies im Hinblick auf die Entwicklung des Heranwachsenden, auch unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit, verantwortet werden kann (§§ 110 Abs. 1, 88 Abs. 1 JGG); die Entscheidung ergeht dabei im pflichtgemäßen Ermessen (Eisenberg, aaO, § 88 Rn. 14).
3. Obgleich der Verurteilte letztlich eine im Übrigen durchaus positive Entwicklung genommen zu haben scheint (Therapiesitzungen in der Sozialtherapeutischen Abteilung der Justizvollzugsanstalt A [Bearbeitung der Gewaltproblematik], beruflicher Abschluss, keine aggressiven Auffälligkeiten) – allerdings relativiert durch die Gründe des Widerrufs der vormaligen Aussetzung der restlichen Jugendstrafe zur Bewährung, nicht einschlägige Straftaten geringeren Umfangs während der vorübergehenden Bewährungszeit und insbesondere sein Entweichen am 03.03.2017 – und auch ein gesicherter sozialer Empfangsraum gegeben sein dürfte, hat das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses zur Folge.
a) Das Landgericht Freiburg hat – ebenso wie die Staatsanwaltschaft – das mögliche Erfordernis der Einholung eines (kriminalprognostischen) Gutachtens eines Sachverständigen, falls erwogen wird, die restliche Jugendstrafe zur Bewährung auszusetzen, nicht in den Blick genommen (§ 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO, §§ 66 Abs. 3 Satz 1 iVm Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe a, 212 StGB). Diese Rechtsfrage ist in Rechtsprechung und Literatur streitig, wenn die Jugendstrafe nach den Vorschriften des Erwachsenenvollzuges vollstreckt wird; in der obergerichtlichen Rechtsprechung wird sie – soweit ersichtlich – überwiegend bejaht (bejahend: OLG Hamm, Beschluss vom 05.02.2015 – III-2 Ws 33/15 -, juris; OLG Düsseldorf StraFo 2012, 470; OLG Dresden, Beschluss vom 17.06.2009 – 2 Ws 203/09 -, juris; OLG Celle NStZ-RR 2008, 355 mit abl. Anm. Rose NStZ 2010, 95; Brunner/Dölling, aaO, § 85 Rn. 14; verneinend: OLG Frankfurt NStZ-RR 1999, 91; Eisenberg, aaO, § 85 Rn. 22a; Diemer/Schatz/Sonnen, aaO, § 85 Rn. 16; HK-JGG/Sonnen, aaO, § 85 Rn. 16; Brunner/Dölling, aaO, § 88 Rn. 12; NK-JGG/Ostendorf/Rose, aaO, § 88 Rn. 12; Ostendorf NJW 2000, 1090). Im Gesetzgebungsverfahren bei der Einführung des § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 durch das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 16.01.1998 wurde die Frage nicht diskutiert (vgl. BT-Drs. 13/7163, Seite 9).
Der Senat schließt sich angesichts dessen, dass § 85 Abs. 6 Satz 2 JGG bei Abgabe und Übertragung der Vollstreckung einer Jugendstrafe an die Staatsanwaltschaft ohne Einschränkung die Anwendung der Strafprozessordnung, und somit auch von § 454 Abs. 2 Satz 1 StPO vorsieht, der bejahenden Auffassung an. Aus den Gesetzesmaterialien ergeben sich auch keine Hinweise darauf, dass gerade diese Vorschrift nicht zur Anwendung kommen sollte. Im Übrigen stellte es auch einen argumentativen Bruch dar, bei der Frage, ob § 88 JGG oder § 57 StGB zur Anwendung kommt, auf den in § 85 Abs. 6 Satz 2 JGG fehlenden Verweis auf das Strafgesetzbuch abzustellen, die gegenteilige Regelung jedoch beim Verweis auf die Strafprozessordnung zu ignorieren. Angesichts des ausdrücklichen Verweises steht der Ansicht des Senats auch nicht entgegen, dass § 454 Abs. 2 Satz 1 StPO nur den Begriff der „Freiheitsstrafe“ enthält.
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